Dietmar Krug

Im Normalfall ist der Autor eines Buches nicht sein eigener Rezensent. Es gibt aber auch den Fall, wo der Mitarbeiter eines Projekts besser als jeder Außenstehende weiß, welch enorme Chance vertan wurde und wie es dazu kam. Fehlende Planung, versäumter Austausch des Projektleiters mit den Autoren und nicht zuletzt der Argwohn der Koordinatorin gegen jede Eigeninitiative haben nicht nur dazu geführt, dass ein Mitarbeiter nach dem anderen dem Projekt den Rücken gekehrt hat - auch der Rezensent -, sondern auch dazu, dass das nun vorliegende Ergebnis ist, was es ist: eine Blamage für die Österreichische Akademie der Wissenschaften.

Akademiepräsident Werner Welzig hat ein Redensartenwörterbuch zur Fackel von Karl Kraus vorgelegt, das erste von drei geplanten Wörterbüchern. Bislang mehr als 20 Mio. Schilling Steuergeld und ein Team von zeitweise 13 Voll- bzw. Teilzeitkräften standen ihm zur Verfügung - Bedingungen, von denen ein Geisteswissenschaftler normalerweise nur träumen kann. Die Fackel wurde auf Datenträger eingescannt und damit für elektronische Recherchen zugänglich gemacht. Dadurch konnten Redensarten wie "Schulter an Schulter" oder "die Stirn bieten" auf den mehr als 20.000 Seiten der Zeitschrift mühelos gefunden werden. Artikel zu den einzelnen Redensarten präsentieren Textausschnitte aus der Fackel, um so Kraus' Umgang mit den Phrasen zu dokumentieren.

Autorenschaft der Phrasen unklar

Allerdings kann der Leser nur rätseln, warum an der einen Stelle die Stirn geboten und an der anderen Schulter an Schulter gekämpft wird. Ja, er weiß häufig nicht einmal, wer im jeweiligen Textausschnitt das Wort führt. Und es ist wohl kein unwesentlicher Unterschied, ob es Kraus selbst ist, der eine Phrase verwendet, ein Leserbriefschreiber oder ein Redakteur eines deutschnationalen Blatts.

Das Dilemma rührt daher, dass die Textbelege aus dem jeweiligen Zusammenhang der Fackel gerissen und somit für den Leser oft völlig unverständlich sind. Deshalb war ursprünglich jeder Redakteur angehalten, genannte Personen oder unverständliche Anspielungen zu recherchieren und entsprechend zu erläutern. Da es dabei eine koordinierende Planung drei Jahre lang schlicht und einfach nicht gab, blieb den Mitarbeitern nichts anderes übrig, als nach eigenem Ermessen zu arbeiten - mit dem Ergebnis, dass die Kommentare am Ende höchst uneinheitlich und von unterschiedlicher Qualität waren. Als nach Abschluss der Arbeit das Chaos ans Licht kam, verfuhr Welzig nach der Strategie: "Wer nichts sagt, sagt auch nichts Falsches" und strich den gesamten Kommentar.

Um das Desaster zumindest in der Optik etwas zu entschärfen, wurden die Artikel in ein edles Layout gekleidet und mit knappen Randglossen versehen, von denen der Herausgeber selbst sagt, dass es für sie "keinen fachsprachlichen oder standardsprachlichen Ausdruck" gebe. In der Tat, denn es handelt sich um eine beliebige Sammlung von Zitaten und Assoziationen, die weder einem wissenschaftlichen Mindeststandard genügen noch im Geringsten die Lektüre erleichtern. Die Folge ist, dass selbst der motivierteste Leser unmöglich auch nur über die ersten fünf Seiten hinauskommt - und das bei einem Buch, das der Herausgeber ausdrücklich nicht als Nachschlagewerk, sondern als Lesebuch verstanden wissen will.

Schuld am Scheitern des Projekts ist nicht das Autorenteam, das zuzeiten versucht hat zu retten, was zu retten war. Dieser Hinweis ist mehr als Fairness gegenüber ehemaligen Kollegen, er ist Ausdruck des Bedauerns darüber, was mit diesem Team und diesen Mitteln alles möglich gewesen wäre. Die Fackel ist wohl eines der faszinierendsten und zugleich unzugänglichsten Monumente der österreichischen Literatur. Der riesenhafte Text mit seinem in sich geschlossenen Kosmos ist nach wie vor ein Stiefkind der österreichischen Germanistik.

"Fackel" auf CD-ROM für Forschung

Welzig, der als Akademiepräsident so oft die mangelhafte Forschungsförderung der Regierung kritisiert hat, hatte es in der Hand, etwas für einen bedeutenden österreichischen Autor zu tun. Er hat eine große Chance vertan. Er hätte ihm aber noch einen weiteren Dienst erweisen können. Die Fackel auf CD-ROM mit entsprechenden Recherchemöglichkeiten hätte - für einen Bruchteil der Kosten im Vergleich zum Wörterbuch - der Kraus-Forschung ein wichtiges Tor in die Fackel geöffnet. Der Suhrkamp-Verlag wäre bei entsprechenden Vorarbeiten der Akademie durchaus an einer Kooperation interessiert. Aber dann würde das Wörterbuch nicht einmal mehr als Wühlkiste für Zufallsfunde dienen.

Dr. Dietmar Krug ist Germanist und lebt als freiberuflicher Verlagslektor und Rezensent in Wien. Von März 1997 bis Juli 1998 war er Mitarbeiter am "Fackel"-Wörterbuch.