Die sich aus dieser Erkenntnis nun etablierende Gender-Medizin wird die Therapie revolutionieren - und bald an ethische Grenzen stoßen.

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Frauen sind auch nur Männer. Hirnaktivität, Schmerzempfinden, Stoffwechsel, Körperfettverteilung, sogar der Hormonstatus: alles gleich. Muss ja so sein, denn wäre es anders, würden Frauen anders verarztet als Männer.

Dem ist aber nicht so. Zumindest nicht im Allgemeinen. Erst im Speziellen spricht sich in Medizin und Pharmakologie herum, dass es neben dem Mann noch einen Menschen gibt. Die Frau. Und zwar nicht nur in der anatomisch-organischen Komplexität der weiblichen Biologie, sondern auch determiniert über den soziokulturellen Status.

Die daraus entstehende Gender-Medizin wird Prävention, Therapie und Rehabilitation revolutionieren, damit Leben retten. Bei aller Euphorie bleibt aber zu erwarten, dass diese Entwicklung schnell an ethische Grenzen stoßen wird.

Medizin ist in Europa und den USA kulturell bedingt männlich. Die geschichtlichen Faktoren dafür beginnen beim Hochschulzugang und enden bei tradierten Rollenbildern, die noch heute in Gesundheitsstatistiken abzulesen sind: Nur neun Prozent des "starken" Geschlechts gehen zu Vorsorgeuntersuchungen, während 13 Prozent des "schwachen" Geschlechts dieses Angebot beanspruchen. Dementsprechend mehr Arzneien, nämlich um fast 30 Prozent, werden Frauen verschrieben.

Das Problem dabei: Mit Ausnahme der Indikationen für die "Bikini-Medizin" (Brust, Gebärmutter, Eierstöcke) sind fast keine Medikamente an Frauen getestet worden.

Nach dem Unglück mit Contagan, das in den 1960er-Jahren Tausende Frauen geschädigte Kinder zur Welt hatte bringen lassen, verbot die US-Gesundheitsbehörde FDA in den 1970ern sogar die Teilnahme von Frauen an Medikamententests. Was den Pharmafirmen recht war. Denn die rekrutierten - auch in Europa - ihre Probanden für die oft risikoreichen Studien primär aus dem Militär: gleiches Alter, gleiche Konstitution, gut verfügbar und kontrollierbar, kostengünstig, somit ein Paradesample für die medizinische Statistik. Die Ergebnisse wurden dann einfach auf Frauen übertragen.

Das ging so lange gut, bis in den USA in den 1990ern die antivirale HIV-Therapie eingeführt wurde: Männer profitierten, Frauen litten doppelt so oft an schweren, mitunter tödlichen Nebenwirkungen: Die Dosis, die für Männer optimal war, war für Frauen zu hoch. In dieser Tragödie schlug die Geburtsstunde der Gender-Medizin. Pionierin des Fachgebiets in Österreich ist die Innsbrucker Ärztin Margarethe Hochleitner, Vizerektorin für Gleichstellung der Meduni Innsbruck. Sie entmannte beispielsweise den Herzinfarkt.

Bisher galten Herz-Kreislauferkrankungen als typisch männliche Todesursachen. Doch mit 59 Prozent starben im Jahr 2006 in Österreich mehr Frauen daran als Männer (38 Prozent). Da jedoch Männer das Norm-Studienobjekt waren und die Symptome zwischen den Geschlechtern variieren, wurden die Anzeichen bei Frauen übersehen. Und falls nicht, zumindest falsch behandelt.

Denn dasselbe Medikament in gleicher Dosis wirkt bei Frauen oft stärker oder schwächer als bei Männern. Verantwortlich sind Geschlechterunterschiede in Resorption, Distribution, Plasmaproteinbindung und Elimination von Arzneien. Längere gastro-intestinale Transitzeiten etwa verzögern die Resorption von Arzneien; der höhere Körperfettanteil erhöht bei lipophilen Arzneien das Verteilungsvolumen. Und einen Einfluss auf die Bioverfügbarkeit von Medikamenten haben Unterschiede im Abbau von Steroidhormonen.

Inzwischen ist das Problem erkannt worden, Frauen werden zunehmend in klinische Studien einbezogen. Weder FDA noch europäische Arzneimittelbehörde lassen heute Medikamente zu, die nicht auch an einem Mindestanteil von Frauen getestet wurde - allein: Dieser Mindestanteil ist nicht quantifiziert.

Was bisher aber so gut wie gar nicht öffentlich diskutierte wurde, sind ethische Aspekte dieser Entwicklung. Einige Medikamente haben sicher das Potenzial, nachhaltig Geschlechtsorgane zu beeinträchtigen. Wer haftet, wenn Frauen nach Studienteilnahme geschädigte Kinder gebären? Sollen sich Schwangere an den Studien beteiligen - immerhin schlucken sie ja auch ohne Studienteilnahme Medikamente? Und nicht zuletzt, die Logik der Gender-Medizin weitergeführt, müssten Medikamente auch massiv an Kindern getestet werden. Wer hat das entsprechende Verfügungsrecht? Die Eltern? Und wie hoch ist ihre finanzielle Entschädigung dafür?
(Andreas Feiertag, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5. März 2008)