Bild nicht mehr verfügbar.

Waris Dirie
Foto: APE/epa

Wien/Brüssel - Die UN-Sonderbotschafterin und Autorin Waris Dirie befindet sich nach ihrem mysteriösen Verschwinden in Brüssel seit Montag im Krankenhaus. "Waris Dirie ist vor kurzem stationär in einem Spital aufgenommen worden", sagte ihr Anwalt Gerald Ganzger. Grund sind die Verletzungen, die sie von ihrem tagelangen Martyrium davongetragen haben dürfte.

Laut vorläufiger Diagnose habe Waris Dirie eine Verletzung an der linken Schulter, sagte Ganzger. "Sie kann den linken Arm nicht heben." Weiters habe sie Abschürfungen an den Beinen. Es gebe nun weitere Untersuchungen, um abzuklären, ob die erlittenen Schläge weitere Verletzungen nach sich gezogen hätten. "Es geht ihr schlecht", so der Anwalt über den Gesundheitszustand seiner Mandantin. Sie müsse laut derzeitigen Informationen sicher zwei bis drei Tage im Spital bleiben und werde komplett durchgecheckt.

Die belgischen Behörden hätten gegenüber ihm derzeit noch nicht auf die am Sonntagabend bekanntgemachten Informationen über eine Gefangenschaft und sexuelle Übergriffe reagiert, sagte Ganzger. Das sei aber im Moment nicht so wichtig. "Jetzt schauen wir einmal, dass alles geklärt ist und es ihr bessergeht", betonte er. Juristische Schritte seien derzeit nicht geplant.

Gefangen gehalten

Die tagelang in Brüssel vermisste UNO-Sonderbotschafterin und Autorin Waris Dirie hat sich offenbar nicht mehrere Tage in der belgischen Hauptstadt verirrt, sondern dürfte einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Das Ex-Model sei von einem Taxifahrer zwei Tage lang in einem Haus gefangen gehalten worden, der Mann habe außerdem versucht, sie zu vergewaltigen, sagten ihr Anwalt Gerald Ganzger sowie Diries Manager Walter Lutschinger am späten Sonntagabend.

Verletzungen an der Schulter sowie Kratzspuren an den Beinen würden von ihrem Martyrium zeugen, so Lutschinger. Dirie sei nach ihrer Aussage bei der belgischen Polizei im Hotel in Weinkrämpfe ausgebrochen und habe einen Nervenzusammenbruch erlitten. Den belgischen Behörden gegenüber habe Dirie bisher nichts über den Vorfall erzählt, weil sie "nicht mehr darüber reden", sondern nur mehr "ihre Ruhe" wollte. "Ich glaube, sie ist einfach schwer schockiert gewesen", so der Manager.

Taxifahrer bot Hilfe an

Nach der vergeblichen Suche nach ihrem Hotel mit der Polizei sei Dirie auf jenen Taxifahrer gestoßen, der sie später zwei Tage lang gefangen gehalten habe, erzählte Lutschinger. Der Mann habe ihr angeboten, bei der Suche zu helfen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen habe er ihr schließlich vorgeschlagen, bei ihm zu übernachten. In seinem Haus am Stadtrand soll er Dirie dann aufgefordert haben, die hohen Fahrtkosten "in Naturalien" zu bezahlen. Laut Dirie sei es ein ständiger Kampf gewesen, der Taxifahrer habe mehrmals vergeblich versucht, sie zu vergewaltigen, so Lutschinger. Dirie nehme Kick-Box-Unterricht und könne sich zur Wehr setzen.

Nach zwei Tagen ohne Essen brachte der Mann Dirie schließlich zurück in die Stadt und ließ sie irgendwo aussteigen. Es sei der "absolute Terror" gewesen, habe Dirie über die Gefangenschaft erzählt, so der Manager.

Da sich nun allerdings jener Mann in die Medien gedrängt habe, mit dem sie aufgegriffen wurde, wollte Dirie nun doch über den Vorfall reden, erklärte Lutschinger. Dirie betonte, sie habe diesen Mann erst etwa eine Stunde vor ihrem Wiederauftauchen kennengelernt, also nachdem der Taxler sie aus der Gefangenschaft entlassen hatte. Er habe ihr nur ein Getränk gekauft und wollte anschließend helfen, das Polizei-Zentrum zu finden. Dabei sei man auf jene Beamtin gestoßen, die Dirie schließlich identifiziert habe.

Hotel nicht gefunden

Es stimme auf jeden Fall, dass Dirie am Dienstagabend nach einem kurzen Disco-Besuch ihr Hotel nicht wieder gefunden habe, erklärte Lutschinger. Falsch sei, dass sie randaliert habe. Zur falschen Adresse chauffiert, habe sie sich bei der Suche nach ihrer Unterkunft zunächst der Polizei anvertraut, die mit ihr stundenlang von Hotel zu Hotel gefahren sei. Die Nachforschungen der Beamten, mit denen sich Dirie nur schlecht auf Englisch verständigen konnte, beurteilte das Model nach einer Zigarettenpause vor einem Hotel schließlich als wenig zielführend, sagte Lutschinger. Laut ihrem Manager machte sie sich daher alleine und zu Fuß weiter auf die Suche. Dabei dürfte sie ihrem Peiniger in die Arme gelaufen sein.

Dirie war im Rahmen ihrer Tätigkeit als UN-Sonderbotschafterin nach Belgien gereist. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens hatte sie keinen Pass, kein Handy und kaum Bargeld bei sich. Bei ihrer Suche nach dem Hotel sei Dirie mehrmals bei Polizeistationen gewesen und teilweise weggeschickt worden, erzählte Lutschinger. Die Polizei sei grundsätzlich aber "wahnsinnig nett" gewesen. Man gehe davon aus, dass die Ermittlungen in Belgien nun wieder aufgenommen werden, so Diries Anwalt Gerald Ganzger. In ihrer ersten Reaktion hatte Dirie ihr plötzliches Verschwinden gegenüber der Polizei und Medien als "Missverständnis" abgetan.


Psychologin: Verschweigen von Trauma-Erlebnis typisch

Ein so spätes Sprechen über traumatische Ereignisse wie im Fall von Waris Dirie komme bei Opfern durchaus öfter vor, erklärte Traumapsychologin Helga Kernstock-Redl am Montag gegenüber der APA: "Herunterspielen oder Verschweigen sind durchaus typisch." Es sei daher ein häufiges Zeichen, dass Opfer etwas nicht wahr haben wollen oder als "nicht tragisch" abtun, am liebsten gar nicht drüber reden oder gleich vergessen, erklärte die Psychotherapeutin und Sektionssprecherin im Berufsverband Österreichischer Psychologen (BÖP). Bei Waris Dirie komme noch die fremde Stadt hinzu, die selbstverständlich verunsichere.

Über das Nichtwiederfinden ihres Hotels habe sich Dirie wie jeder Mensch, möglicherweise geärgert, vielleicht auch deswegen geniert. "Dann hat man noch mehr Hemmungen, Hilfe in Anspruch zu nehmen", beurteilte die Trauma-Expertin das Verhalten der Frau. "Es könnte auch sein, dass sie sich deshalb für die unglückliche Verkettung der weiteren Umstände einfach mitschuldig gefühlt hat."

Mit eine Rolle in ihrem Verhalten könnte auch die Vergangenheit Waris Diries spielen. Die gebürtige Somalierin musste als Kind eine Genitalverstümmelung über sich ergehen lassen und sollte zwangsverheiratet werden. "Manchmal passiert es solchen Menschen, dass Auslöser in der Gegenwart sie sehr stark an die alten, schrecklichen Erlebnisse erinnern", meinte die Therapeutin. "Besonders schlimm ist natürlich, wenn sich Ähnliches wiederholt."

Der Grund für das späte Herausrücken mit traumatischen Gewaltereignissen liege oft darin, dass Betroffene ernsthaft glauben, selbst schuld zu sein. "Es ist einfach so schrecklich, ein wehrloses Opfer zu sein, dass manche das nicht zugeben wollen, weder vor sich selbst noch vor anderen", erklärte Kernstock-Redl. Man müsse akzeptieren, ohne Handlungsmöglichkeiten Todesgefahr ausgeliefert gewesen zu sein. "Je öfter jemand Opfer ist, umso eher hat ein Mensch diese Neigung", meinte die Therapeutin.

"Man will das Opfer-Gefühl einfach los sein, und viele sind es dann sogar müde, für persönliche Gerechtigkeit zu kämpfen." Eine weitere mögliche Reaktion sei der aktive Kampf gegen das Unrecht. Dass Waris Dirie gerade während ihrer Arbeit für mehr Schutz und Gerechtigkeit für Frauen in solch eine Situation gekommen sein soll, müsse besonders entsetzlich sein. (APA)