Das stundenlange Warten hat sich gelohnt. Plötzlich, ohne jede Ankündigung, ertönen Trommeln, Tschinellen, Knochentrompeten und Posaunen. Die tiefen, langgezogenen Töne der riesigen, bis zu vier Meter langen Hörner klingen wie aus einer anderen Welt. Aus dem Klostergebäude quellen Mönche in ihren roten Kutten. Vorneweg die Musik und Novizen mit gelben Ehrenschirmen, bunten Bannern und qualmenden Räuchergefäßen. Auf den Schultern der Mönche ein etwa 30 Meter langes, in weiße Baumwolle gehülltes Rollgemälde, ein Thanka. Wie eine lange Schlange windet sich das Stoffbild durch enge Gassen der Klosterstadt. Die Gläubigen entblößen ihre Häupter, falten die Hände, drängen nach vorne. Sie versuchen zu helfen oder das Thanka wenigstens zu berühren.

Zu Vollmond gebar Königin Maya im 6. Jahrhundert v.Chr. in Lumbini, im heutigen Nepal, ein Kind, das wie kein anderer Mensch Asien prägen sollte. Jahre später, wieder am Vollmondtag, erlangte Siddharta, "der sein Ziel erreichen wird", unter einem Feigenbaum die Erleuchtung und wurde zum Buddha. Nach Jahren des Umherziehens und Predigens starb er - den Legenden nach - im Alter von 80 Jahren wiederum zum Vollmond im Mai. Kein Wunder, daß dieser Tag heilig ist, daß in allen buddhistischen Ländern Asiens Feste gefeiert werden, besonders fremdartig, eindrucksvoll und farbenprächtig in den Himalayaländern.

Nach einer kurzen Prozession beinahe im Laufschritt ist der Festplatz erreicht. Das Thanka wird, umgeben von einer Menschentraube, auf einen steilen, eigens planierten Hügel geschleppt. Wieder Trommeln, Becken und Hörner. Die Menge hält den Atem an. Zuerst langsam, dann immer schneller rollt das riesige, 20 mal 30 Meter große Bild nach unten. Der gelbe Stoff, der das heilige Bild schützt, wird mit Seilen hochgezogen. Darunter erscheint zusammengesetzt aus zahllosen farbigen Seidenstücken Buddha, gütig lächelndes Symbol der Liebe und des Mitgefühls. Das ehrfürchtige Schweigen wird von Jubel abgelöst. Wie auf Kommando werden weiße Glücksschleifen, die Katas, auf das Rollbild geworfen, um Ehrfurcht zu bezeugen. Hunderte drängen zum Thanka, wollen es mit der Stirn berühren, ein Brauch, mit dem Tibeter alles Verehrenswerte begrüßen. Kleine Kinder werden gegen den unteren Rand des Thanka gedrückt, besonders Eifrige versuchen, unter dem Rollbild hochzukriechen, um das Zentrum des Buddha zu erreichen. Viele sind von weither gekommen, zu Fuß, mit Lkw und klapprigen Bussen. Ihre Kleider aus dicken Stoffen und Fellen riechen nach Rauch und ranziger Butter. Die Frauen tragen all ihren Schmuck, Türkise und Korallen, ihre Haare sind zu 108 Zöpfchen geflochten - 108 als heilige Zahl im tibetischen Buddhismus. Sie drehen die Gebetszylinder, murmeln "Om mani peme hum", "O Juwel in der Lotusblüte".

Das Kloster Kumbum im Nordosten Tibets, 2500 Meter hoch gelegen, feiert wie viele andere tibetische Klöster den Geburtstag des Erleuchteten am Vollmondtag des Monats Mai wie seit Jahrhunderten, nur daß sich jetzt chinesische Uniformen und die dunklen Anzüge der Funktionäre unter die Pilger mischen. Die Begeisterung und Gläubigkeit der Menschen hat sich nicht geändert. Das Festhalten an ihren alten Traditionen, die Geborgenheit in ihrer Religion gibt ihnen die Kraft und Gelassenheit für die Bewältigung der schwierigen Gegenwart.

Am Nachmittag ruft das Dröhnen der Becken, Trommeln und langen Hörnern die bunte Menge in den Hof des Klosters. Aus dem Tempeleingang drängen Tänzer in schweren Brokat-Gewändern mit einem Totenkopf auf der Brust und schwarzen, hohen Hüten mit einer Krempe aus Yakhaar. In langsamem, feierlichem Rhythmus umtanzen sie im Uhrzeigersinn den Festplatz. Die endlose Wiederholung derselben Töne im selben Rhythmus soll das Bewußtsein der Zuschauer befreien, es für eine andere Dimension öffnen. Ihnen folgen die Citipati, die "Herren der Leichenacker", mit Totenkopfmasken und Kostümen, auf denen das Skelett gemalt ist.

Gebannt, viele mit offenem Mund staunend, als sähen sie alles zum ersten Mal, als wäre es ungewiß, wer im Kampf der Schutzgottheiten gegen die Feinde der Religion triumphiert, folgen die Zuschauer den Ereignissen. Nur die Spaßmacher, die zwischendurch auftreten, um die Spannung zu lockern und allzu Eifrige von der Tanzfläche zurückzudrängen, lösen hin und wieder ein befreiendes Lachen aus. In diesen Pausen bleibt den Tibetern Zeit, um Neuigkeiten mit Menschen auszutauschen, von denen sie sonst durch hohe Bergketten oder windgepeitschte Hochebenen getrennt sind. (DER STANDARD, Printausgabe Juni 1999)