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Zur Person:

Margarete Mitscherlich (90) ist Psychoanalytikerin. Gemeinsam mit ihrem Mann Alexander, dem 1982 verstorbenen Psychologen und Soziologen, verfasste die gebürtige Dänin zahlreiche Bücher über die Aufarbeitung der NS-Zeit. "Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens", das bekannteste Werk der beiden, erschien im Jahr 1967. In der ersten Ausgabe von Alice Schwarzers Frauenzeitschrift Emma aus dem Jahr 1977 erklärte Margarete Mitscherlich: "Ich bin Feministin." Noch heute behandelt sie Patienten im Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt.

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STANDARD: Sie selbst haben 1968 an der Universität turbulente Tage in Frankfurt am Main erlebt. Erinnern Sie sich gerne daran?

Mitscherlich: Wir Psychoanalytiker, also auch mein Mann Alexander, waren wirklich der Meinung, dass sich die Studenten einmal mit der Vergangenheit auseinandersetzen sollen. Da war so viel Verdrängung nach dem Zweiten Weltkrieg - auch bei den Studenten. Aber es war ja kein Wunder: Nach so viel Irrtum, nach totalem ideellem und materiellem Verlust, war das Bedürfnis nach Ruhe verständlich. Es war wohl auch eine Art manische Abwehr gegen die drohende Depression. Man war eben mit dem Wirtschaftswunder beschäftigt, ordentlich und fleißig waren die Deutschen ja immer.

STANDARD:Warum endete diese Ruhe 1968? War der zeitliche Abstand zu 1945 groß genug, um sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen?

Mitscherlich: Ja, das war ein Aspekt unter vielen. Außerdem begannen die Deutschen ins Ausland zu reisen und merkten, welche Verachtung ihnen entgegenschlug. Öffentlich wurde zwar über das Dritte Reich diskutiert, aber daheim redete man nicht davon. Außerdem ging es den Deutschen wirtschaftlich gut. Das gab ihnen die Kraft, an die Geschichte zu rühren und zu fragen, wie dieser grässlichste Massenmord aller Zeiten passieren konnte. Bis 1968 waren wir ja blind und taub.

STANDARD: Wie fanden Sie die Besetzung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt durch Studenten, die eine Diskussion über die politische Situation durchsetzen wollten?

Mitscherlich: Ich fand es nicht witzig, als das Büro, das mein Mann mit Jürgen Habermas und Theodor Adorno teilte, besetzt wurde. Als Adorno starb (1969, Anm.), habe ich eine der Frauen, die ihn mit blankem Busen erschreckt haben, angefahren: "Sie sind schuld!" Gott, die Ärmste.

STANDARD: Wie denken Sie heute über diesen Satz?

Mitscherlich: Nun ja, es tat den Studenten schon gut zu überlegen, was man mit Menschen macht, die ein ganz anderes Leben hatten. Für so etwas wie Takt gab es wenig Gefühl. Wir waren während der Nazizeit alle keine Helden - bei Gott, ich auch nicht. Aber man schwieg, weil man am Leben bleiben wollte.

STANDARD: Andererseits wurde endlich diskutiert, und Ungeduld ist ein Vorrecht der Jugend.

Mitscherlich: Ja, klar, dass die Jugend aus diesem Spießertum ausbrach, das war positiv. Aber die protestierenden Studenten waren nicht sehr einfühlsam, sondern die Unsensibilität der Nazis herrschte weiter. Die Studenten hatten zwar eine neue Ideologie, aber eben eine Ideologie. Und da verlangt man dann, dass alle so denken wie man selbst, was sehr nervig ist.

STANDARD: Gab es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen?

Mitscherlich: Ich hatte später den einen oder anderen der Studentenführer in Behandlung. Da kam auch heraus, dass die Frauen damals diesen Männern sehr ergeben waren. Sie kochten Kaffee und befriedigten ihre Bedürfnisse. Erst die Terroristinnen der RAF hatten - wie bekannt - etwas zu sagen. Aber die sahen absolut an der Realität vorbei.

STANDARD: Brauchen wir heute noch Feminismus?

Mitscherlich: Ja, mit Sicherheit. Man braucht ihn auch für sich selbst gegen das Bedürfnis, sich unterzuordnen. Es ist für Frauen schwer, aus der passiven Rolle auszubrechen, zu eigenen Entscheidungen zu kommen und im Rivalitätskampf rücksichtslos zu sein. Gelegentlich ist es angenehm, wenn jemand anderer sagt: Das mache ich für dich. Ich war ja auch berufstätig, aber es gab Dinge, die immer mein Mann machte - die ganzen Steuergeschichten etwa.

STANDARD: Muss eine emanzipierte Frau alles selbst machen?

Mitscherlich: Natürlich nicht. Nicht jeder muss den Ehrgeiz haben, immer eine höhere Position zu erreichen. Ich zum Beispiel war ausgefüllt mit dem Beruf, meiner Familie, dem Reisen, da musste ich nicht noch einen Professorentitel anstreben.

STANDARD: Wie definieren Sie heute Feminismus?

Mitscherlich: Als Befreiung von vorgefassten Meinungen und Werten, die bisher als weiblich und männlich galten und seine eigene Position einnehmen können.

STANDARD: Ihre Freundin Alice Schwarzer kämpft auch gegen Pornografie. Warum Sie nicht ?

Mitscherlich: Die menschliche Fantasie ist nicht zu bändigen, und es gibt nun einmal masochistische und sadistische Fantasien en masse. Feminismus brauchen wir, aber er muss kein Kampf gegen Fantasien sein - es sei denn, Pornografie wird benutzt ,um Frauen zu erniedrigen. Pornografie kann auch künstlerisch reizvoll sein, man denke an die griechische Kunst. Es sind ja nicht alle Menschen 90 Jahre alt und jenseits von Gut und Böse. 1968 brachte schließlich - auch dank der Pille - sexuelle Befreiung.

STANDARD: Sie sind seit Jahrzehnten Psychoanalytikerin. Haben sich die seelischen Konflikte Ihrer Patienten verändert?

Mitscherlich: Früher wurden Frauen aus bäuerlichen Gebieten, die von "Fremdarbeitern" ein Kind bekamen, geächtet. Diese Konflikte gibt es nicht mehr, weil andere Lebensformen neben der Ehe gibt. Aber das Trauma eines Menschen, der verlassen wird, ist immer noch das gleiche. (Birgit Baumann, DER STANDARD, Print, 5./6.4.2008)