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Foto: APA/Hans Klaus Techt

Graz/Wien - Ihre Akribie und ihre Ernsthaftigkeit haben Marie Jahoda "einen scheinbar geringen wissenschaftlichen Output beschert". Ein Umstand, der nach Ansicht von Historiker Reinhard Müller, ihrer Bedeutung für die empirische Sozialforschung keineswegs gerecht wird.

Der Mitarbeiter am Grazer "Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich" hat nun die Sichtung des Nachlasses der im April 2001 verstorbenen Wissenschafterin beendet und will gemeinsam mit Historiker Christian Fleck den wahren Umfang ihrer Arbeiten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Geplant ist, alles Material im Internet aufzubereiten.

Unpubliziertes

Reinhard Müller bedauert, dass der Name Marie Jahoda für viele fast ausnahmslos mit der in den 1930er-Jahren durchgeführten Studie "Die Arbeitslosen vom Marienthal" als Synonym steht. Im Nachlass sind nun Studien aufgetaucht, die sie nie oder nur in Teilen veröffentlicht hat. Der STANDARD konnte in die umfangreichste exklusiv Einsicht nehmen: "The process of education at Vassar College". Jahoda untersuchte 1950 die Zustände an dem College im US-Bundesstaat New York.

Müller vermutet, dass man sich mit Hilfe der Wissenschafterin das Renommee der Mädchenschule bestätigen lassen wollte. Jahoda ging ans Werk, arbeitete in dem für sie typischen Methodenmix und förderte Unerfreuliches zutage: Schwere Organisationsmängel, der Unterricht sei unzureichend, ergaben Befragungen der Schülerinnen, auf deren Bedürfnisse werde nicht eingegangen. Es fand sich eine Dominanz von Werten, die mit jenen eines "liberal arts college" nicht vereinbar waren. Es waren "lauter Kleinigkeiten, die Jahoda fand, aber sie bedeuteten ein mächtiges Minus" für das College, resümmiert Müller.

Verhinderte Kritik

Was danach passierte, ist für Müller einer der zentralen Umstände aus denen die geringe Zahl der Publikationen Jahodas erklärbar ist: Die Collegeleitung bat sie dringend, ihre Ergebnisse nicht zu veröffentlichen. Sie willigte ein mit der Bedingung, Verbesserungsvorschläge sofort umzusetzen. So geschah es und Jahoda fasste später zusammen: Eine Publikation der Ergebnisse hätte nie denselben Nutzen erbringen können.

Das Ziel ihrer mehrere hundert Seiten umfassenden Studie war also dennoch erreicht. Müller fand in einer späteren Korrespondenz den Hinweis, dass Jahoda mit der Umsetzung ihrer Ergebnisse auch zufrieden war. Diente es dem höheren Zweck, verzichtete Jahoda also auf Veröffentlichungen, "auch wenn das ihrer eigenen Karriere schadete", analysiert Müller.

Missbrauch unter Bergarbeitern

In dem 15.000-Seiten- Nachlass finden sich weitere unveröffentlichte Arbeiten: In der Studie zu einem Selbsthilfeprojekt für arbeitslose Bergarbeiter in Südwales sah der Auftraggeber sich um sein Lebenswerk gebracht, als Jahoda feststellte, dass es Missbrauch gab. Sie publizierte wieder nicht und erklärte diese Entscheidung in einem Brief an einen Freund: Es diene zwar nicht ihrer Reputation, aber das sei nicht so wichtig für sie.

Im Fall der "War-time Social Survey" (London, 1940) ging sie noch weiter: Als verlangt wurde, sie solle Ergebnisse umschreiben, kündigte Jahoda mit ihren Mitarbeitern.

Umfassendes Karteisystem

Die Zielstrebige war in ihrer Arbeit zudem gut organisiert. So findet sich im Archiv ihr mehrere hundert Karten umfassendes Karteisystem (siehe Bild oben), mit dem sie ihre Vorträge und Aufsätze strukturierte. Jahoda "stoppelte niemals Beiträge zusammen", bemerkt Müller, selbst wenn das Thema gleich lautete. Neben Arbeitslosen widmete sich Jahoda Antisemitismus und Kommunistenhatz unter McCarthy in den USA.

Aus der Korrespondenz Jahodas schließt Müller, dass sie Überzeugungen "gegen alle Widerstände beinhart durchgezogen hat". Das betrifft nicht nur die Arbeit, sondern auch die politischen Aktivitäten, wegen denen sie 1937 aus Österreich flüchtete. Ihre Karriere setzte sie in Großbritannien und den USA fort. Dass sie ihren Nachlass "einem Land hinterlässt, aus dem sie vertrieben wurde", ist für Experten ein weiterer bemerkenswerter Charakterzug Jahodas. (Andrea Waldbrunner/DER STANDARD, Printausgabe, 12.2.2003)