Jahrzehntelang galt die Nato als politischer und militärischer Kraftprotz, als Superwaffe der westlichen Welt, die allein die Sowjetunion in Schach halten kann. Selbst nach Ende des Kalten Krieges konnte die Nato noch gelegentlich die Muskeln spielen lassen - etwa im Kosovo, wo die Allianz als Ersatz-UNO auftrat und zur Verteidigung der Menschenrechte einen Angriffskrieg mit zweifelhaftem Ausgang führte.

Doch in der Irakkrise erweist sich die Nato plötzlich als fragiles Geschöpf, das durch die jüngsten transatlantischen Stürme Schaden zu nehmen oder gar zu zerbrechen droht. Fieberhaft hat ihr Generalsekretär Lord Robertson tagelang vergeblich versucht, mit einer diplomatischen Kompromissformel die Allianz vor dem Kollaps oder - was fast genauso schlimm wäre - der Bedeutungslosigkeit zu retten. Dabei geht es nicht um das Für und Wider eines Irakkrieges, sondern nur noch um die institutionellen Interessen einer Organisation, deren wahren Zweck niemand mehr genau nennen kann.

Diese Entwicklung ist nicht zufällig. Schließlich haben die USA den Konflikt ganz bewusst in die Nato hineingetragen, indem sie aus einem hypothetischen Szenario - einem irakischen Angriff auf die Türkei nach einem US-Schlag - einen formalen Bündnisfall gemacht haben. Und Frankreich und Deutschland haben den Fehdehandschuh aufgenommen und lautstark ein Veto eingelegt, statt im Stillen eine diplomatische Lösung zu suchen. Beide Seiten haben die Nato instrumentalisiert, um den Gegner in die Defensive zu drängen und in der medialen Debatte ein paar Punkte zu sammeln. Arme Nato!

Die Instrumentalisierung der Nato ist nichts Neues. Nach den Terrorangriffen des 11. September 2001 riefen die Europäer erstmals den Bündnisfall nach Artikel IV des Nato-Vertrages aus - nicht, um Seite an Seite der USA zu kämpfen, sondern um sich weltpolitisch ins Spiel zu bringen. Ganz lieb, aber nicht nötig, reagierte Washington, und verfolgte den Krieg gegen den Terrorismus ohne Absprache mit den Verbündeten. Ironischerweise kommt die Kritik, dass die USA die Irakkrise bewusst in die Nato hineintragen, vor allem von jenen, die der Bush-Regierung ankreiden, die mühsam aufgebauten multilateralen Institutionen in ihrer imperialen Arroganz zu ignorieren.

Tatsache ist, dass die Nato heute hauptsächlich symbolische Bedeutung hat. All ihre Beamten, Planungsstäbe und Militäreinrichtungen dienen als Zeichen des Zusammenhalts der westlichen Demokratien, weshalb halb Osteuropa nun auch beitreten will. Die EU greift in die Wirtschafts-und Rechtspolitik der Mitgliedsstaaten ständig ein - die Nato nicht. Politisch-militärische Symbole werden allerdings leicht zum Selbstzweck, die mehr Energie binden, als sie besitzen - wie jene Fahne in der Schlacht, für die Rilkes Cornet sein Leben opfert.

Wäre der Westen heute besser dran, wenn es die Nato nicht gäbe, wenn die USA, Frankreich und Deutschland nicht auch noch dort die Klingen kreuzen müssten? Wahrscheinlich nicht. Das ganze Netz von gemeinsamen Institutionen (UNO, Nato, OSZE, IWF, Weltbank, G-8 oder WTO) mag zwar vor allem als Beschäftigungsprogramm für Diplomaten wirken, zwingt aber die Regierungen dazu, die Interessen der anderen Länder bei den eigenen Entscheidungen mit zu berücksichtigen und nach vertretbaren Kompromissen zu suchen. Es mag absurd wirken, dass Schadensbegrenzung zur obersten Maxime der Bündnispolitik geworden ist. Aber solange man sich im Weißen Haus, in der Downing Street und den anderen europäischen Staatskanzleien um den diplomatischen Kollateralschaden ernsthafte Sorgen macht, so lange sind dem Auseinanderdriften von USA und Europa klare Grenzen gesetzt. Rein inhaltlich ist ein Kompromiss zwischen amerikanischen Falken und europäischen Tauben beim Irak kaum vorstellbar. Wenn er dennoch zustande kommt, dann vor allem, weil keine Seite als Totengräber des westlichen Bündnisses dastehen will. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.2.2003)