Schwer zu sagen, wer jetzt wieder schuld ist: die Iren, die über ihrem von der Europäischen Union geborgten Wohlstand irre geworden sind und künftig von dieser nicht mehr behelligt zu werden wünschen; der polnische Präsident, der ungeniert zeigt und zur Nachahmung empfiehlt, wofür Europa immerhin noch benutzt werden kann, nämlich dazu, dem innenpolitischen Gegner in aller Öffentlichkeit etwas abzupressen, was mit der Europäischen Union, der Brüsseler Bürokratie, der europäischen Verfassung nicht das Geringste zu tun hat; oder die österreichische Sozialdemokratie, der das soziale Europa ein so edles Ziel ist, dass sie es im basisdemokratischen Boulevard zur Abstimmung stellen möchte ...

Jedenfalls scheint nichts mehr zu gehen, nicht mit dem Prozess, der aus der Union mehr als eine Zollfreihandelszone machen, nicht mit der Erweiterung, die die innereuropäische Grenze ost- und südwärts verschieben sollte. Die Zukunft Europas, ein Anlass zur Sorge? Gewiss, aber damit die Zukunft etwas bleibe, um das es sich zu sorgen überhaupt noch lohnt, wäre es angebracht, endlich zur Kenntnis zu nehmen, wie sich die europäischen Dinge ganz ohne die renitenten Iren, den rabiaten Präsidenten Polens und die österreichischen Sozialdemokraten mit ihrem fatalen Hang, sich lieber abzuschaffen, als die nächste Wahl zu verlieren, entwickelt haben.

Vor acht Jahren, als in Österreich eine Regierung gebildet wurde, der eine gelinde als "rechtspopulistisch" und gemeinhin als rechtsextrem eingestufte Partei angehörte, war die Empörung bei den anderen Staaten der Europäischen Union (damals nur vierzehn an der Zahl) allenthalben groß. Empört haben sie gegen die österreichische Regierung gewettert, aber doch nicht so recht gewusst, wie sie den Tabubruch, die Regierungsbeteiligung jener Partei, ahnden sollten. Die "Sanktionen" waren eine selbstgestellte Falle, in die die EU getappt ist, weil sie nicht bedacht hatte, was sie ihrem forschen Auftreten folgen lassen könnte und wie die Verletzung der zudem nirgendwo festgeschriebenen, sondern im Nebel eines vagen Humanismus gehaltenen "europäischen Werte" institutionell zu sanktionieren wären. Damals haben die klügeren Köpfe aus der Riege der Empörer angekündigt, ein Verfahren zu entwickeln, welches regelt, wie Verstöße gegen die gemeinsamen Prinzipien festzustellen seien und welches Procedere dann in Gang zu kommen habe. Bei dieser Ankündigung, die das Beste an den unausgegorenen "Sanktionen" waren, ist es jedoch geblieben.

Seither schert sich niemand mehr darum, wer wo wie regiert, Hauptsache, er stört nicht, wenn es darum geht, die Erweiterung so voranzutreiben, wie es den Wirtschaftsstrategen frommt. Was aber heißt es, die europäischen Institutionen zu stärken, wenn egal ist, wie die einzelnen Staaten im Inneren verfasst sind? Was kann es bedeuten, die europäische Einheit zu vertiefen, wenn diese Einheit mittlerweile Staaten umfasst, deren Regierungen zwar nicht faul sind, die prächtige Zukunft eines über die alten Ländergrenzen, ja über die Grenzen der Union hinaus investitionsfreudigen europäischen Börsenkapitalismus anzurufen, aber fleißig daran arbeiten, die demokratischen Traditionen ihrer eigenen Länder zu zerstören und notorisch ungestraft die europäischen Gesetze zu brechen? Ja, lasst uns einmal nicht davon sprechen, wie man den Iren die Zustimmung zum Reformvertrag doch noch abgewinnen, den polnischen Präsidenten und die österreichische Sozialdemokratie zur Räson bringen könne; und sprechen wir auch nicht von den Beitrittskandidaten auf dem Balkan, die jetzt warten müssen, bis ihnen die Kronen Zeitung ihre Zugehörigkeit zu Europa bestätigt, sondern von einem Gründungsmitglied der europäischen Union. Sprechen wir von Italien.

Dort werden seit letzter Woche allen Roma, deren die Polizei habhaft wird, die Fingerabdrücke abgenommen. Damit verstößt Italien nicht etwa gegen den Gleichheitsgrundsatz, indem bestimmte Gruppen vor dem Gesetz, das für alle gleich zu gelten hat, ungleich behandelt werden; nein, die italienische Regierung geht einen großen Schritt weiter zurück in die Vergangenheit des Landes, indem sie Gesetze beschließt, die überhaupt nur für eine einzige, ethnisch oder rassisch gefasste Gruppe der Bevölkerung gelten. Mit diesem Schritt hat sich Italien aus dem uns bekannten System des Rechtsstaates hinausbefördert, und es ist keine wohlfeile Empörung zu fragen, wann eine bestimmte Gruppe von Menschen im italienischen Pass mit einem R speziell gekennzeichnet wird.

Der unerhörte Vorgang wird von der italienischen Regierung und den Medien, in deren Besitz sich der Ministerpräsident des Landes befindet - auch das ein Menetekel, wie weit Italien auf dem Weg zur gelenkten Demokratie, zur plebiszitär legitimierten Telekratie geraten ist -, als Maßnahme beschrieben, die notwendig sei, um der Kriminalität Herr zu werden; eine Begründung, so unverschämt und komisch, dass man sie sich in Ruhe zu Gemüte führen muss.

Sorgte sich die italienische Regierung wirklich wegen der Kriminalität, statt für sie zu sorgen, dürfte sie ihren Ministerpräsidenten nicht mit immer neuen Sondergesetzen davor bewahren, für seine kriminellen Machenschaften zur Rechenschaft gezogen zu werden; dann müsste sie die Anti-Mafia-Behörden, die davon ausgehen, dass mindestens ein Fünftel der Parlamentarier - jedweder Fraktion - sich auf der Gehaltsliste krimineller Organisationen befindet, in ihrer Arbeit unterstützen, statt sie notorisch zu behindern; dann müssten der Bürgermeister von Rom und der Innenminister ihrer Ämter enthoben werden, weil sie, die so lange gehetzt haben, bis der Mob folgsam mit Pogromen reagierte, die Eskalation nun zur Begründung dafür nehmen, den Staat autoritär aufzurüsten, vorgeblich um dem von ihnen selbst bestellten Volkszorn Einhalt zu gebieten. Genau dies war übrigens die Strategie der Faschisten: die chaotische Situation eines drohenden Bürgerkriegs herzustellen, um sich in ihr als einzige Macht zu präsentieren, die wieder für Ordnung und Ruhe sorgen kann.

Italien hat in seiner neueren Geschichte Millionen Italiener aus dem teuren Vaterland ausgestoßen, sie in alle Welt hinausgejagt, auf dass sie sich in unzähligen Ländern der Erde als das durchbringen mussten, was heute nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa verächtlich als "Wirtschaftsflüchtling" bezeichnet wird. Und diese Millionen Italiener haben der Welt nicht nur so segensreiche Erfindungen wie Spaghetti bolognese, defensiven Fußball und mediterrane Lebenskunst beschert, sondern überall auch kriminelle Vereinigungen und Banden gebildet. Nicht alle von ihnen natürlich, und nicht deswegen, weil Italiener nun einmal einen stärkeren Hang zur Kriminalität besäßen als Österreicher, Nigerianer oder Kanadier, sondern weil sie arm und rechtlos waren und keine Aussicht hatten, sich ihren Platz in der neuen Welt als Einwanderer auf polizeilich genehmigte Weise zu erobern.

Wenn es eine europäische Nation gibt, der sich das historische Wissen eingeprägt haben müsste, dass Kriminalität keine ethnische Kategorie, sondern eine Folge desaströser Lebensumstände ist, dann ist es die italienische. Seit in der italienischen Gesellschaft jedoch der Hooligan des Wohlstands - der sich, je rabiater er seinen eigenen Vorteil verficht, umso selbstverliebter als Opfer von Schmarotzern sieht - das politische Sagen hat, ist es um dieses Wissen, diese Erinnerung vollends geschehen. Die Armut selbst ist es, die kriminalisiert wird, und die Roma sind da ein zwar willkommenes, weil nahezu wehrloses Objekt der allgemeinen Verachtung und staatlichen Verfolgung, aber gemeint sind keineswegs nur sie; sicher dürfen sich gerade die nicht fühlen, die jetzt als machtlose Schlägerbrigaden der Mächtigen in Neapel und anderswo auf jene losgehen, die noch ärmer sind als sie.

Mit dem Tabubruch ist es aber so eine Sache: Was gestern noch ein Skandal war, ist morgen schon Normalität. Wenn die ÖVP einst die Lust verspürte, europäische Avantgarde zu spielen und sich mit einer xenophoben Partei zu verbinden, mit der zu verbinden sich vorher ein jeder scheute, dann ist das, was sie unter dem notabene begeisterten Europäer Wolfgang Schüssel erprobte, mittlerweile gemeineuropäischer Brauch; rings um Österreich sind längst alle möglichen Parteien, die der FPÖ, wie sie war und ist, keineswegs nachstehen, regierungsmächtig geworden, und sie zerstören munter, was der ÖVP an Europa doch vorgeblich heilig ist.

Was den Tabubruch betrifft, den die italienische Regierung eben ruchlos verübt hat, ist es mit ihm nicht anders. Wer Italien jetzt nicht Einhalt gebietet, braucht sich um die Zukunft Europas nicht zu sorgen. Dann hat sie nämlich schon begonnen, und zwar ganz anders, als es uns verheißen wurde. Und wovon wir heute noch schaudernd Kunde erhalten, daran werden wir uns morgen schon gewöhnt haben. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.7.2008)