Ricardo Jacinto hat im Hof der Tabakfabrik in Rovereto riesige schwarze Ballons befestigt. Vielleicht ist es nur heiße Luft, die sie aufsteigen lässt, vom Boden abheben kann man mit ihnen allemal.

Foto: Rensi

"Schönheit. Darüber könnten wir den ganzen Tag und die ganze Nacht reden. Was ist sie? Was ist sie nicht? Wer hat das Recht zu entscheiden? Wer sind die wirklichen Kuratoren der Welt, oder sollten wir sagen, die Kuratoren der wirklichen Welt? Was ist die wirkliche Welt? Sind Dinge, die wir uns nicht vorstellen, nicht messen, analysieren, darstellen und reproduzieren können, wirklich? Existieren sie? Wenn unsere Vorstellungskraft scheitert, wird auch die Welt scheitern? Wie können wir dies wissen?"

Ein Auszug aus einem Text der indischen Dichterin und Essayistin Arundhati Roy: ein Monolog für eine Stimme unter mehreren, die seit Samstag die Gewölbe und Gänge der Südtiroler Franzensfeste beschallen. Hier raunt die Soziologin Saskia Sassen über Arbeitsmigranten, dort erzählt der deutsche Autor Thomas Meinecke über eine "Poetik der Schwarzen Atlantischen Welt", irgendwo laufen in einem Saal Stummfilme von Harun Farocki, Michael Snow oder Karl Kels, und insgesamt erinnern die alten Gemäuer aus den napoleonischen Kriegen archaisch vor allem an eins: Verteidigung gegen mögliche Angriffe.

Als Startpunkt der Manifesta 7 mag man dies, über den Brenner nach Italien gefahren, als sinnfälliges Bild lesen: Für eine Kunst und Kultur, die einerseits erhöhten Legitimations- und Selbstverteidigungsbedarf verspürt, andererseits aber, so wie sie sich hinter Theorien verschanzt hat, nur sehr elitär zur Kenntnis genommen wird. Wie schreibt Arundhati Roy: "Ich hoffe, Sie haben den Katalog gekauft. Sie müssen. Zumindest um den Anschein zu wahren."

Konkrete Welthaltigkeit

Die Manifesta 7, zu Gast in der Region Südtirol-Trentino, in Bozen, Trento und Rovereto - sie bietet auf der Basis der Vorarbeit von drei Kuratorenteams gleich vier Kataloge auf. Man liest da einmal mehr jede Menge an erklärendem Unterfutter, man entdeckt - und das ist wohl das Wichtigste - jede Menge wenig bekannter künstlerischer Positionen. Und: Man erkennt eine "Reiseroute", die von den starren Selbstbefestigungskonzepten direkt in ein Umfeld konkreter Welthaltigkeit führt.

Der Endpunkt dieser Reise: das ist eine alte Tabakfabrik in Rovereto, in der der polnische, in Graz tätige Kurator Adam Budak Arbeiten zum "Prinzip Hoffnung" in Dialog treten lässt: Erinnerungen an Michelangelo Antonionis dokumentarisches Frühwerk Kinder des Po kommunizieren mit Manifesta-Auftragsarbeiten über Wechselwirkungen zwischen globaler und regionaler Devastation. Das zeitigt oft erratisch fragile Bilder. Guido van der Werve dreht sich am Nordpol mit der Erdrotation, Adam Leech untersucht neuzeitliche Sprechblasen, der Dramatiker Tim Etchells transformiert Texte über eine "ideale" Stadt. Oder, nur eine Position unter sehr vielen: Ricardo Jacinto aus Portugal hat im Hof unter dem Titel Labyrinthitis riesige schwarze Ballons befestigt. Vielleicht ist es nur heiße Luft, die sie aufsteigen lässt, vom Boden abheben kann man mit ihnen allemal.

Labyrinth an Büros

Dass Kunst etwas in Bewegung setzen kann, bis sie sich selbst verunmöglicht: Davon erzählte vor zwei Jahren auch die Manifesta 6, die abgesagt wurde, geplant als grenzüberschreitendes, auch politisch durchaus aktivistisches Projekt, das den zypriotischen Gastgebern nicht (mehr) passte. Bewegung spielt auch diesmal keine geringe Rolle, wenn die Besucher der Manifesta 7, die sich auf fünf Großausstellungen konzentriert einlassen wollen, mindestens drei Tage Aufenthalt einkalkulieren sollten.

In Trento erwartet sie im alten Postgebäude aus den faschistischen 1930er-Jahren ein schier unüberschaubares Labyrinth an Büros und Amtsräumen, in dem sich die Kuratoren Anselm Franke und Hila Peleg den Fragen der Seelenbeschau und Introspektion widmen: ein durchaus kafkaeskes Unterfangen, bei dem die Location nicht selten beeindruckender ist als viele oft sehr mediokre Videos - aber irgendwie ist diese Ausstellung letztlich doch eine erhellende Abhandlung über Wohl und Wehe der gegenwärtigen Kunstproduktion. Nächtens, auf eine Außenwand der Post projiziert, spricht der Philosoph Joseph Vogl in einer Videolektion der deutschen Mobile Academy rund um Hannah Hurtzig bezeichnend über das Zaudern.

Am eingängigsten "funktioniert" der gewaltige Parcours, den das Raqs Media Collective in der ehemaligen Alumix-Fabrik in Bozen kuratiert hat. Einsichten in die Geschichte des sterbenden Gebäudes korrespondieren hier am elegantesten mit dem, was Künstler aller Genres umtreibt - nicht zuletzt über die Trauer und den Tod. Meg Stuart etwa liefert mit The only possible City ein furioses Selbstporträt in Nahaufnahme, bei dem das Videoformat raren Sinn ergibt: "Das Gesicht", so Giorgio Agamben, "ist der einzige Ort der Gemeinschaft." Stuart, weinend, wirkt vor diesem Hintergrund ziemlich allein.

Daneben: Luftverschmutzungsuntersuchungen des spanischen Künstlers Jorge Otero-Pailos, monumentale "Raumfolgen" aus der Pathologie von Walter Niedermayr, Trash-Comics des italienischen Comic-Künstlers Professor Bad Trip, 111 Gespräche mit Künstlern und Einheimischen, die bis zum Ende der Manifesta 7 an einem großen weißen Tisch unter dem Motto "Tabula Rasa" stattfinden sollen. 

Ähnlich wie bei der Documenta muss man sich auch hier Zeit nehmen, um am Ende vielleicht mehr Fragen als Antworten nach Hause mitzunehmen. "Ich hoffe, Sie haben den Katalog gekauft." (Claus Philipp aus Rovereto, DER STANDARD - Printausgabe, 21.07.2008)