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Raúl Castro im kubanischen Parlament in Havanna. Der Sitz zu seiner Rechten ist stets reserviert für den erkrankten Bruder und Máximo Líder Kubas.

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Fídel Castro lässt sich gelegentlich im Fernsehen blicken, auf seine alten Tage als Revolutionär leger gekleidet.

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Für die USA ist nichts Wesentliches passiert in Kuba, seit Raúl Castro sein Amt angetreten hat, Europa dagegen sieht Anzeichen eines Wandels und hat deshalb vor kurzem die Sanktionen gegen den kommunistischen Inselstaat aufgehoben. Die Realität aber ist vielschichtiger.

Der 77-Jährige hat seit seiner Amtseinführung im Februar in der Tat zahlreiche Verbote aufgehoben, die unter seinem Bruder Fidel als unantastbare Bestandteile des Sozialismus galten. So gibt es fortan auf Kuba keine Lohnobergrenzen mehr, und das Salär wird nach Produktivität gestaffelt, im Staatsfernsehen sind mehr US-Fernsehserien zu sehen, Wohnungsbau und Landwirtschaft - die beiden Sektoren mit den meisten Produktionsengpässen - wurden dezentralisiert, Lizenzen für private Taxis wieder ausgegeben. Außerdem dürfen Kubaner unter bestimmten Bedingungen nun Eigentumstitel für ihre Wohnungen beantragen. Bisher gehörte der Wohnraum dem Staat, der ihn den Staatsangestellten zur Verfügung stellte.

Auch dürfen sich kubanische Staatsbürger nun in Hotels einmieten, Handys, Computer, DVDs und Fernseher kaufen. Bisher kamen nur Funktionäre, Ausländer und Unternehmen in diesen Genuss. Raúl erhofft sich von den Maßnahmen einen Effizienzschub für die staatliche Mangelwirtschaft.

Die Führung betont zwar den rein wirtschaftlichen Charakter der Maßnahmen, in Wirklichkeit sind sie aber politischer und psychologischer Natur: Die Einschränkungen waren äußerst unpopulär und wurden von den Kubanern in den vergangenen Monaten offen als diskriminierend kritisiert im Rahmen des von Raúl angestoßenen Prozesses der Selbstkritik und "Berichtigung" des sozialistischen Kurses. Der jüngere, wenig charismatische Castro-Bruder, der in der Bevölkerung nicht den Rückhalt genießt wie der kranke Fidel, muss die aufgestauten Frustrationen der Kubaner über den Sozialismus zumindest teilweise abbauen, um seine Legitimationsbasis nicht zu verlieren und das System zu retten. Dazu gehört auch die Wiedereinführung der Leserbriefe in der Parteizeitung Granma, wo die Kubaner Luft ablassen können über Korruption, Ineffizienz und Versorgungsengpässe - sofern sie nicht den Sozialismus an sich infrage stellen.

In der Bevölkerung stießen die Reformen auf gemischte Reaktionen. Zwar drängten sich in den ersten Wochen zahlreiche Schaulustige um die Devisenläden, in denen die Luxusgüter nun legal erstanden werden können. Doch viele drückten sich nur die Nase platt. Bei einem durchschnittlichen Monatslohn von 20 Euro bleiben sie für viele unerschwinglich.

Sie werden nämlich nur gegen Devisen abgegeben. Aber nur rund 60 Prozent der Kubaner hat Zugang zu Devisen, sei es durch Arbeit bei ausländischen Joint Ventures oder dank Überweisungen ausgewanderter Verwandter. "Das war längst überfällig", kommentierte ein Mittvierziger nach dem Kauf eines nagelneuen, knallroten Motorrollers. Für das Zweirad blätterte er 754 CUC hin - umgerechnet rund 520 Euro. "Das geht alles viel zu langsam", sagt der Staatsangestellte Jorge, der sich mit - bis vor kurzem noch illegalen - privaten Chauffeurdiensten ein Zubrot verdient.

Raúl opfert damit die soziale Gleichheit für die Effizienz der Wirtschaft und nimmt die Vertiefung des sozialen Grabens zwischen Devisen- und Peso-Besitzer in Kauf - etwas, womit Fidel nie einverstanden war. Wie riskant diese Strategie ist, wird die Zukunft zeigen. Positive Impulse erwarten Wirtschaftsexperten von der Dezentralisierung in der Landwirtschaft (s. Artikel unten), die bisher die elf Millionen Kubaner nicht annähernd mit Nahrungsmitteln versorgen konnte - geschweige denn die Hunderttausenden von Touristen, die jedes Jahr Kuba besuchen. Jährlich müssen daher Lebensmittel im Wert von einer Milliarde Dollar importiert werden. Die steigenden Lebensmittelpreise belasten Kubas Zahlungsbilanz. Eine wichtige wirtschaftliche Stütze ist außerdem das Bruderland Venezuela, das Kuba mit billigem Öl versorgt und die veraltete Energie-Infrastruktur auf Vordermann bringt.

"Seinen ersten Test hat Raúl bestanden", denkt Dan Erikson vom Inter-American-Dialogue in Washington. "Er hat die Zügel der Macht fest in der Hand, durch seine Reformen Luft gewonnen und die Beziehungen zum Ausland verbessert." Doch er hat damit auch Hoffnungen auf weitergehende Änderungen geweckt. Eine politische Öffnung steht allerdings nicht zur Debatte. Raúl gilt als Bewunderer des chinesischen und vietnamesischen Modells, während ihm der Zusammenbruch der Sowjetunion als Schreckgespenst in Erinnerung ist. Daher ist die Staatssicherheit weiter omnipräsent, Dissidenten werden verhaftet und eingeschüchtert, ausländische Korrespondenten ausgewiesen, wenn sie zu kritisch schreiben. "Für uns hat sich nichts geändert", sagt der Regimekritiker Elizardo Sanchez. (Sandra Weiss/DER STANDARD, Printausgabe, 21.7.2008)