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Am Ende wartet der Riese Oger: der Eiger (3970 Meter über dem Meer) mit seiner Hauptdarstellerin, der Nordwand

Foto: dpa/Gyger

Mythos und Ideologie: Vor nicht allzu langer Zeit fanden die Tragödien der hohen Berge gleichsam vor der Haustür statt – etwa an der Eiger-Nordwand. Von Martin Grabner


"Ich liege in meinem Zelt und versuche, ein Buch zu lesen. Aber ich kann mich nicht konzentrieren, denn wie besessen haftet der Gedanke an diese Wand, diese Ra-khiot-Wand – diese verwunschene, zerklüftete Eiswand mit den vielen Gletscherspalten. Sie liegt genau in der Mitte und hindert unseren Aufstieg. Als wir vor einem Monat am Basislager ankamen, hat mir die Rakhiot-Wand Furcht eingeflößt. Auf den Fotos hingegen, möchte man meinen, dass sie aus der Märchenwelt stammt ... Angst und Kopfzerbrechen bereiten mir aber die Eisklumpen, die sich ständig von der zerklüfteten Eiswand lösen. Sicher verursacht diese Wand schon seit Jahrzehnten Angst und Zittern im ganzen Tal und fordert die Einheimischen zu Respekt und Heiligkeit auf.

Diese trotzige Teufelswand ließ mich schon am ersten Tag unserer Ankunft nicht in Ruhe, sie macht mich unschlüssig und skeptisch, es ist wahrhaftig eine gefährliche Mission!", schrieb der Südtiroler Bergsteiger Karl Unterkircher am 13. Juli 2008 in sein Tagebuch. Zwei Tage später stürzt der 37-jährige dreifache Familienvater in der Nordwand des Nanga Parbat, der Rakhiot-Wand, in eine Gletscherspalte und kann von seinen beiden Gefährten nicht mehr gerettet werden. Der Rest der Geschichte ist bekannt.

Nutzloses Erobern

Zwar wird heute das Extrembergsteigen in der Öffentlichkeit gern als Hochleistungssport gesehen, der mit Hochdruck an der Lösung der letzten "alpinen Probleme" arbeitet. Es mag, wie es Reinhold Messner einmal genannt hat, um "die Eroberung des Nutzlosen" gehen, und trotzdem haben die Geschichten vom Einzelnen und dem Berg, vom Menschen in der Wand, von Mut und Risikobereitschaft nichts von ihrer Faszination verloren. Immer schon haben bei der Bezwingung der großen Wände Mythologie, Ideologie (und sei es nur die des Schneller, Weiter, Höher), Triumph und Tragödie eine Rolle gespielt – auch medial.

Heute finden diese Dramen auf den Achttausendern, den Bergen der Welt, statt, früher quasi vor der Haustür, am Montblanc, am Matterhorn und vor allem am Eiger, dem mit 3970 Metern elfthöchsten Gipfel der Berner Alpen, mit seiner Hauptdarstellerin, der 1800 Meter hohen Nordwand, der höchsten der Alpen.

"Peterli der Gletscherwolf"

Angefangen hat alles vor 150 Jahren, als der irische Gelegenheitsbergsteiger Charles Barrington mit den beiden einheimischen Bergführern Christian Almer und Peter Bohren, den sie im Tal auch "Peterli den Gletscherwolf" riefen, den Eiger über die Westflanke zum ersten Mal bestieg. Barrington hatte den Sommer in Grindelwald verbracht und die Berner Alpen bis ins Wallis und zurück überschritten. Danach wollte er noch etwas Besonderes unternehmen und verschwand nach erfolgreicher Erstbesteigung des Eiger für immer zurück nach Irland zu seinen geliebten Pferderennen.

Woher der Name Eiger eigentlich kommt, ist nicht eindeutig geklärt. Eine Möglichkeit ist die Ableitung vom menschenfressenden Riesen "Oger", welcher der Sage nach im oberen Teil der Wand sein grausames Unwesen treiben soll, was zumindest zu den vielen dramatischen Geschichten, die sich in dieser wohl berühmtesten Wand der Alpen später noch abspielten, ganz gut passen würde.
Die Nordwand rückte erstmals 1883 in das Interesse von Kletterern.

Heckmair-Route

Der legendäre bayrische Bergführer Johann Grill vulgo "Kederbacher", bekannt als Erstbesteiger der Watzmann-Ostwand, der höchsten Wand der Ostalpen, wollte es unbedingt probieren. Sein englischer Klettergast John Percy Farrar konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten. Stattdessen meisterten die beiden die schwere Westwand des nahen Weisshorns. Für eine Durchsteigung der Eiger-Nordwand wäre die Zeit damals einfach noch nicht reif gewesen, schließlich beinhaltet die klassische "Heckmair-Route" von 1938, die als "einfachste Variante" gilt, Kletterstellen bis zum fünften Schwierigkeitsgrad, für Grill und seinen Gast damals technisch ein Ding der Unmöglichkeit.

Im Sommer 1932 gelingt den Schweizern Hans Lauper und Alfred Zürcher mit den Bergführern Alexander Graven und Joseph Knubel die Durchsteigung der 1700 Meter hohen Nordostwand, und damit scheint das letzte "große alpine Problem" bereits gelöst. Für die Schweizer und zahlreiche nationale und internationale Medien war damit nämlich alles erledigt, da sie zwischen der Nordostwand und der durch einen gewaltigen Nordpfeiler abgetrennten Nordwestwand, der eigentlichen Eiger-Nordwand, keinen Unterschied machten.

Das noble Londoner Alpine Journal lobte damals die fabelhafte Leistung, die Ersteigung ohne große Risiken und Materialaufwand in einem Zuge geschafft zu haben. Eine deutsche Zeitschrift vermeldete zu diesem Erfolg: "Jetzt gibt es dort nichts Neues mehr zu holen." Doch nun sollte es erst richtig losgehen. Offenbar wurde dabei auch der sagenhafte Riese geweckt, und er begann seine Zähne zu fletschen, gab es doch bisher keine Toten, außer einem Selbstmörder, der sich aus den Aussichtsfenstern der Station Eigerwand der (zwischen 1896 und 1912 gebauten) Jungfraubahn stürzte.

Magische Westalpen

Die jungen deutschen, österreichischen und italienischen Bergsteiger der Zwischenkriegszeit, auch "Führerlose" genannt, weil sie grundsätzlich einheimische Bergführerhilfe verschmähten, waren damals die besten Felskletterer, was sie in den Ostalpen oft bewiesen hatten. Sie strömten nun vermehrt in die oft auch aus chronischem Geldmangel für sie so schwer erreichbaren magischen Westalpenberge. Der erste ernsthafte Versuch wurde von den Münchnern Max Sedlmayer und Karl Mehringer im Sommer 1935 unternommen. Die beiden gelangten auf einer idealen, geradlinigen Route bis zu einer Wandstelle, dem sogenannten Bügeleisen auf 3300 Metern, wo sie vom Schlechtwetter überrascht wurden, zu zwei weiteren Biwaks gezwungen waren und dabei vermutlich entweder an Erschöpfung starben, erfroren oder abstürzten. Sedlmayrs Leiche wurde ein Jahr später zufällig viel weiter unten gefunden, Mehringers Leichnam blieb überhaupt 27 Jahre unentdeckt. Der schützende Rastplatz in der Wand wurde darauf mit dem Namen "Todesbiwak" bedacht.

1936 starteten die bayrischen Gebirgsjäger Andreas Hinterstoisser und Toni Kurz zuerst als eigene Seilschaft, später dann gemeinsam mit den Österreichern Willy Angerer und Edi Rainer, zwei Mitgliedern der damals in Österreich noch verbotenen SA, einen neuerlichen Besteigungsversuch. Was sich damals in den Tagen zwischen dem 18. und dem 22. Juli abspielte, ging wenig später als größtes und furchtbarstes Drama in die Eiger-Nordwand-Geschichte ein.

Fatale Entscheidung


Am Anfang kommen die Bergsteiger noch schnell voran, meistern mithilfe der genialen Technik des Anderl Hinterstoisser einen schwierigen, fallenden Seilzugquergang (Hinterstoisser-Quergang) und ziehen danach, einen möglichen Rückzug außer Acht lassend, das Seil wieder ab. Ihr einziges Streben gilt dem Hinaufkommen, eine fatale Entscheidung, wie sich bald darauf herausstellen wird. Jede Bewegung der vier Kletterer wird an diesem Tag durch starke Fernrohre von einer Meute von Reportern, von Schaulustigen, meist wohlhabenden Touristen, und von den Schweizer Bergführern beobachtet. Hundertschaften Neugieriger tummeln sich auf den Aussichtsterrassen der mondänen Hotels Bellevue und Des Alpes auf der kleinen Scheidegg direkt gegenüber der Wand und genießen das Abenteuer aus sicherer Entfernung bei einem Kännchen Kaffee, einem Cocktail oder einem gutem Essen.

Unterhalb des ersten Biwakplatzes, im ersten Eisfeld, passiert dann das Unglück. Willy Angerer wird von einem Stein am Kopf getroffen, und gemeinsam helfen die anderen dem sichtlich angeschlagenen Österreicher nach oben zur schützenden Rast. Die Leistung ist auf jeden Fall gewaltig. Fast die Hälfte der Wand wurde in nur einem Tag bewältigt. Am nächsten Tag beeinträchtigt Nebel die Sicht in die Wand und zu den Kletterern. Die Spannung der wartenden Zaungäste auf der kleinen Scheidegg steigt ins Unermessliche. Am Morgen des 20. Juli ist dann sehr Ernüchterndes zu beobachten. Nur 200 Meter weitere Höhe scheint die Seilschaft gewonnen zu haben. Kurz und Hinterstoisser steigen bis zum Todesbiwak, drehen jedoch bald wieder um, und alle entschließen sich, den verletzten Angerer gemeinsam aus der Wand zu bringen.

Das Wetter wird immer schlechter, Schneerutsche und Steinschlag gefährden die Bergsteiger praktisch ohne Unterlass. Am Dienstag, dem 21. Juli, sind wieder für einige kurze Momente alle vier zu sehen – vor allem Anderl Hinterstoisser bei seinen verzweifelten, völlig aussichtslosen Pendelversuchen, den Quergang zurück zu meistern, der mittlerweile komplett mit Eis überzogen ist. "Der Schlüssel ist abgezogen, das Tor zurück zugeschlagen", schreibt Heinrich Harrer in seinem Buch Die weiße Spinne später.

Lebensgefahr


Die Seilschaft befindet sich nun in einer fürchterlichen Lage und lebensgefährlichen Falle, kann nicht auf dem bekannten Aufstiegsweg hinunter, sondern muss sich über unbekannte Abgründe abzuseilen versuchen. Nebel, peitschender Sturm und Schneefall verhindern jeden Sichtkontakt zu den Erschöpften. Der Streckenwärter Albert van Allmen ruft von einem Stollenloch der Jungfraubahn aus immer wieder zu den 200 Meter schräg über ihm Hängenden. Sie schreien zurück, freuen sich, einen Menschen zu hören, es gibt ihnen Auftrieb, so nahe einer möglichen Rettung zu sein. Van Allmen eilt in sein Quartier zurück, um den Bergsteigern Tee zu kochen, in der Annahme, dass sie bald herunten sein werden. Nach zwei Stunden sind die Alpinisten noch immer nicht aufgetaucht, der Streckenwärter ruft wieder hinauf und hört gellende Hilferufe. Schweizer Bergführer steigen vom Stollenloch in die Wand ein, um einen Rettungsversuch zu starten.

Sie kommen trotz widrigster Wetterverhältnisse in Sicht- und Rufkontakt zu Toni Kurz, dem einzigen noch lebenden Teilnehmer der deutsch-österreichischen Seilschaft. Hinterstoisser scheint abgestürzt zu sein, Rainer erfroren, und Angerer ist beim Sturz vom Seil stranguliert worden. Kurz kann weder hinauf noch hinunter, er hat nicht genug Seil und keine Haken mehr. Außerdem kann er nur noch eine Hand benutzen, die zweite ist erfroren, weil er einen Handschuh verloren hat. Die Retter können wegen der nahenden Dunkelheit und dem furchtbaren Wetter im Moment nichts tun und reden ihm gut zu, noch eine Nacht im grausigen Biwak zu überstehen. Die Reaktion sind verzweifelte Schreie des Bayern um sein Leben eine ganze halbe Stunde lang, während des gesamten Rückzugs der Bergführer zum Stollenloch.

Am nächsten Morgen lebt der junge deutsche Kletterer wie durch ein Wunder immer noch. Die Schweizer kommen bis auf 40 Meter an ihn heran, erklären ihm, dass er eine Schnur herunterlassen müsse, damit sie ihm das rettende Seil hinaufgeben können. Kurz klettert darauf zum toten Willy Angerer hinunter und schlägt ihn mit dem Pickel vom Seil ab. Dann kämpft er sich wieder hinauf zum leblosen Edi Rainer und schlägt oben das Seil ab. Mit der einen, nicht erfrorenen Hand und den Zähnen dreht er den steifgefrorenen Strick in Einzelstränge auf, um diese danach miteinander zu verknoten. Die Bergführer geben ihm daran das Seil hoch, und der stundenlange, mühevolle Abseilakt beginnt. Alles kann jetzt noch gut gehen, die Rettung scheint gewiss. Plötzlich, nur ein paar Meter über den Bergführern, hält der Erschöpfte inne. Der Verbindungsknoten der beiden Seile steckt fest, rutscht nicht mehr durch den Karabiner. Die Führer feuern ihn an, er zerrt verzweifelt am Knoten, sogar mit den Zähnen, aber es hilft alles nichts – um 11.30 am 22. Juli 1936 ist Toni Kurz tot.

Kurzes Verbot

Neben sich über Tage hinziehenden Geschichten in Zeitungen und Illustrierten mit Schlagzeilen wie "Die Bergtragödie am Eiger", "Der Eiger trotzt – Ein Berg ist wider den Willen der Menschen", Diskussionen in den alpinen Vereinen, einem Buch und einem Film über das Drama war eine der Reaktionen auf die tragischen Toten in der Wand das Verbot der Schweizer Regierung für Besteigungen der Eiger-Nordwand. Es hielt aber nur bis Ende des Jahres. Schon im nächsten Sommer wurde wieder munter weitergeklettert.

Der Österreicher Hias Rebitsch und der Deutsche Ludwig Vörg kamen ein paar Seillängen höher, als das Todesbiwak liegt. Dort mussten sie wegen eines Wettersturzes umkehren. Der Rückzug gelang ihnen auch, und sie waren somit die Ersten, die aus dem zentralen Wandteil lebend wieder zurückkehrten, quasi dem menschenfressenden Oger trotzen konnten.

Den Titanen bezwungen

Im Sommer 1938 war es dann endlich so weit. Um 15.30 am 24. Juli 1938 stehen vier müde, hungrige, völlig durchnässte und durch zahlreiche Verletzungen gezeichnete Bergsteiger auf dem Gipfel des Eiger. Das letzte "klassische Problem" der Alpen ist gelöst, die Nordwand endlich durchstiegen. Es sind die beiden Bayern Anderl Heckmair und Ludwig Vörg sowie die "Ostmärker" Heinrich Harrer und Fritz Kasparek, die später am Abend nach dem Abstieg über die Westflanke auf der kleinen Scheid-egg eintreffen und sich glücklich der wartenden Medienmeute, den Freunden und den Schaulustigen stellen. Die halbe Welt hatte an diesem denkwürdigen Abenteuer via Livereportagen und Sonderberichterstattungen teilgenommen. Rundfunksendungen wurden unterbrochen, um den neuesten Stand in der Eiger-Norwand zu vermelden, ähnlich dem heute üblichen Reality-Journalismus.

Am 21. (die beiden Österreicher) beziehungsweise am 22. Juli (die beiden Deutschen) beginnen die vorerst getrennten Seilschaften ihre Versuche, arbeiten aber wenig später nach einer Mittagsrast im Todesbiwak zusammen. Die Münchner, vor allem Anderl Heckmair, übernehmen bald die Führung und steigen am 23. Juli nach einer gemeinsamen Biwaknacht über den Götterquergang Richtung Weiße Spinne, dem charakteristischen Eisfeld im oberen Wandteil. Ein Flugzeug mit Berichterstattern umkreist zu diesem Zeitpunkt die Wand, und es werden Bilder von der Seilschaft im brüchigen Band gemacht. Ein plötzliches Unwetter mit Hagelschlag und eine damit ausgelöste Lawine aus der Eisrinne oberhalb der Bergsteiger erwischt alle vier. Sie überleben beinahe unverletzt, nur Kasparek trägt eine Steinschlagwunde an der Hand davon. Nach extremer Kletterei mit Überhangen und vereisten Rinnen, in denen immer Heckmair führt, erreichen sie schließlich am späten Samstagabend den zweiten Biwakplatz. Es wird eine harte Nacht, ununterbrochen schneit es, und die Bergsteiger frieren fürchterlich.

Aber am Sonntagmorgen beschließen sie trotzdem weiterzugehen. Anderl Heckmair bewältigt in diesen bangen Stunden als Führender die schwierigen Ausstiegsriese_ in legendärer kombinierter Kletterkunst und mithilfe der neuartigen, zwölfzackigen Steigeisen. Mit ihnen hat man durch ihre Frontalzacken große Vorteile am von einem Eispanzer überzogenen, glatten Fels. _Heinrich Harrer bemerkt schmerzlich das Fehlen seiner Steigeisen, für ihn muss Heckmair mit dem Pickel immer wieder Stufen schlagen. Als sie oben ankommen, gibt es noch eine Schrecksekunde, als Anderl Heckmair im Nebel und Schneesturm übersieht, dass er schon am Rande der Gipfelwächte steht und fast auf der anderen Seite, der Südwand des Eiger, wieder hinuntergestürzt wäre, was seine Gefährten in letzter Sekunde noch verhindern können.

Großdeutsche Tat


Die Reaktion der alpinen Vereine und der Fachwelt auf die großartige bergsteigerische Leistung der vier Kletterer war sehr anerkennend, aber doch zurückhaltend. Die nationalsozialistische Propagandamaschinerie setzte sich im Gegenzug voll in Bewegung und vereinnahmte die vier Bergsteiger. Ein paar Monate nach dem Anschluss war der Sieg in der Eiger-Nordwand ein willkommenes Symbol für die "Heim ins Reich"- Parolen der Nazis. Zwei Österreicher und zwei Deutsche hatten gemeinsam den Titanen bezwungen, eine wahrlich "großdeutsche" Tat.

Das Verhältnis der NordwandHelden zu den Nazis gestaltete sich in sehr unterschiedlicher Form. Heinrich Harrer war zum Zeitpunkt der Besteigung das einzige Mitglied der NSDAP und der SS. Der Wiener Kasparek gehörte zu den sozialistischen Naturfreunden und trat nach dem Erfolg "freiwillig" auf das Angebot von Heinrich Himmler selbst der Waffen-SS bei. Anderl Heckmair und Wiggerl Vörg gehörten niemals der NSDAP an, hatten aber natürlich immer wieder ihre Berührungspunkte mit der Partei. Heckmair wurde während des Krieges sogar politische Unzuverlässigkeit vorgeworfen, was ihm einige Monate als Infanterist an der Ostfront einbrachte, bevor er wieder als Bergführer in die Alpen zurückkehren durfte. Wörg hatte weniger Glück und kam am ersten Tag des Russlandfeldzuges ums Leben.

Anderl Heckmair wusste natürlich um die Begeisterung Heinrich Harrers für die Nazis. "Wir haben die Eiger-Nordwand durchklettert über den Gipfel hinaus bis zu unserem Führer", soll Harrer im Eiger-Buch aus dem NS-Verlag geschrieben haben, das kurze Zeit nach dem Erfolg erschien. Etwas, das er zeitlebens abgestritten hat – genauso wie die Geschichte über den mitgeführten Hakenkreuzwimpel im Rucksack. Auf einem kürzlich aufgetauchten Foto ist das Zelt der beiden Österreicher am Fuße der Nordwand zu sehen. Mit Hakenkreuzwimpel! Ein Bild, das Heinrich Harrer in seinem Buch Die weiße Spinne verständlicherweise nicht brachte.

Zweitbegehung 1947


Die zweite Begehung der Eiger-Nordwand gab es bedingt durch die Kriegswirren erst 1947, durch die Franzosen Lionel Terray und Louis Lachenal und ihre erste Durchsteigung an einem Tag 1950 durch Leo Forstenlechner und Erich Waschak in 18 Stunden. In den Fünfzigerjahren erwarb sich die Wand durch immer mehr Durchsteigungsversuche und immer mehr tödliche Unfälle beim Boulevard den zweifelhaften Namen "Mordwand". Die Eiger-Nordwand musste man als Ausnahmebergsteiger einfach einmal gemacht haben, hieß es, und das zog auch viele Leute an, die mit den Problemen dieser sicher technisch nicht allzu schwierigen, aber aufgrund ihrer Lage sehr wetterlaunischen Kletterroute überfordert waren. Der Riese hatte viele Gelegenheiten, auf seine Opfer zu lauern.
Was Experten bis dahin für unmöglich hielten, passierte dann vom 6. bis zum 12. März 1961.

Walter Almberger, Toni Kinshofer, Anderl Mannhardt und Toni Hiebeler durchstiegen die Eiger-Nordwand erstmals im Winter. Der Schweizer Bergführer Michel Darbellay schaffte 1963 den ersten Alleingang, und 1964 kommt mit Daisy Voog die erste Frau auf der Heckmair-Route auf den Eiger. Es ist gleichzeitig die 51. Begehung, und die Schweizer Boulevardzeitung Blick titelt: "Blonde Münchner Sekretärin brach ein Tabu an der mörderischen Wand." In den nächsten Jahren folgten neue Routen, wie die Direttissima, eine senkrechte Linie vom Gipfel hinunter, wie mit dem Lineal gezogen. _
Auf der Terrasse der mittlerweile zu einem Haus verschmolzenen Hotels Bellevue und Des Alpes stehen noch immer die Fernrohre und warten darauf, dass man die heutzutage sehr schnellen Wanddurchsteigungen beobachtet. Reinhold Messner und Peter Habeler hielt viele Jahre den Rekord als Seilschaft mit rund zehn Stunden, ebenso wie der Alleingänger Thomas Bubendorfer mit vier Stunden und 50 Minuten. Erklärend muss dazu gesagt werden, dass eine Seilschaft durch das gegenseitige Sichern natürlich immer länger braucht als ein Alleingänger. In TV-Dokumentationen kann man heute an Liveübertragungen der Durchsteigung vom Sofa aus teilnehmen und bekommt so ein bisschen von dem Gefühl der Erstbesteiger.

Atemberaubend schwierig

Die ungefähr fünf Kilometer breite Wand ist mittlerweile von einem Anstiegsvariantennetz überzogen – wie ein Klettergarten. Ein atemberaubend schwieriger Anstieg, genannt "The Young Spider", direkt zum Gipfel wurde 2001 von den Kletterern Stephan Siegrist und Ueli Steck eröffnet. Apropos Ueli Steck: Er hält mit unfassbaren zwei Stunden, 47 Minuten und 33 Sekunden (!) den Speedrekord, aufgestellt am 13. Februar 2008 – eine Stunde schneller als Stecks eigener Rekord im Vorjahr, bedingt durch das Weglassen jeglicher Seilsicherung und eine Reduktion des Körpergewichts um fünf Kilo. Auch wenn die Bergsteiger schneller und leichter werden, die Gefahr und der Riese Oger lauern in der oberen Wandhälfte. Immer noch. Am Eiger – und am Nanga Parbat. (DER STANDARD Printausgabe, 26./27.7.2008)