Der ÖVP-Generalsekretär Missethon aus der fernen Steiermark erregt sich über "Wiener Ausländerghettos" . Ich weiß nicht, was er sich darunter vorstellt. Vermutlich etwas ähnlich Furchtbares wie der FPÖ-Chef Strache unter der "Türkeninvasion" , die während der Fußball-EM die Bewohner der Hauptstadt angeblich in Angst und Schrecken versetzt hat. Ich habe den größten Teil des Monats Juni in einem Wiener Ausländerghetto verbracht. Ich muss in einer anderen Stadt gewesen sein als die beiden genannten Herren.

Mein Aufenthaltsort war vier Wochen lang die Volkshochschule Favoriten, mitten in einem vorwiegend von Türken bewohnten Viertel gelegen. Ich absolvierte eine Intensiv-Ausbildung für Deutschlehrer. Es war die Zeit der Fußballmeisterschaft. In manchen Fenstern war der Halbmond zu sehen, auf den meisten Autos wehten türkische und österreichische Fähnchen. Essen ging ich meist in ein kleines türkisches Lokal an der Ecke. Bereits beim zweiten Mal wurde ich begrüßt wie ein Stammgast, das Service war so freundlich und schnell, wie ich es mir in meinem Innenstadt-Stammcafé wünschen würde. Rundherum Fußballgespräche, auf deutsch und türkisch. Keine Spur von Aggression. Und in der Volkshochschule selbst: reges Leben, der Anteil von Einheimischen und Migranten etwa gleich hoch.

In unserem Kurs überwogen die Teilnehmer mit Migrationshintergrund. Zwei meiner Kolleginnen trugen das Kopftuch. Natürlich konnten die künftigen Deutschlehrer hervorragend deutsch, viele sprachen drei, manche auch vier Sprachen. Und die Schüler, die wir im Praktikum gratis unterrichteten? Asylwerber aus Asien und Afrika, von der Caritas vermittelt. Nach der gängigen Praxis dürfen sie nicht arbeiten, die wenigsten haben realistische Chancen auf Asyl, trotzdem lernten alle mit Feuereifer. Sobald sie ordentlich Deutsch können, werden sie vermutlich abgeschoben. Humanpotenzial, das völlig ungenutzt bleibt.

In Wien ist bekanntlich jeder Dritte im Ausland geboren, dazu kommt noch die hier geborene zweite Generation. Die Stadt ist längst eine multikulturelle Metropole, und zwar eine, die funktioniert. Nur in der Politik merkt man nichts davon. Es ist paradox: Wer die Politiker reden hört, das öffentlich-rechtliche Fernsehen sieht, die meisten Printmedien verfolgt, bekommt einen Eindruck, der sich von der Realität radikal unterscheidet. Das der Öffentlichkeit vermittelte Bild des Landes ist den 50er-Jahren verhaftet - eine einheitlich monokulturelle Nation, mit Einsprengseln problematischer "Ausländer" und" Gastarbeiter".

Wir haben uns daran gewöhnt, die Probleme, die mit Zuwanderung verbunden sind, durch ein Vergrößerungsglas zu sehen, die Normalität unserer Einwanderungsgesellschaft aber geflissentlich zu ignorieren. Was an ihr nicht normal ist, ist allenfalls ihre Ressourcenvergeudung. Überall fehlen qualifizierte Leute, aber iranische Ingenieure fahren Taxi, ukrainische Ärztinnen arbeiten als Hilfspflegerinnen, äthiopische Mathematiklehrer verteilen Werbematerial. Und unsere Politiker regen sich auf über "Ausländerghettos".

"Get real", sagen die Amerikaner in solchen Fällen. Nehmt endlich die Wirklichkeit zur Kenntnis. Und reagiert darauf. (Barbara Coudenhove-Kalergi/DER STANDARD, Printausgabe, 30.7.2008)