Illustration: DER STANDARD

Die ersten Europäer kamen vor mehr als 30.000 Jahren aus dem Südosten. Entlang der Donau bewegten sie sich ins Zentrum des Kontinents. Auf ihrem Speiseplan standen neben Beeren und Kleinsäugern auch Mammuts. Aus deren Stoßzähnen stellten sie Schmuck her. Aus Kalkstein formten sie Figuren wie die Venus von Willendorf. Die Sammler und Jäger lagerten gerne auf Anhöhen in der Nähe eines Flusses, die als Orientierungsmarken dienten. Am liebsten Südhang mit guter Fernsicht.

Genau auf solche Plätze richten auch die Archäologen, Urgeschichtler und Paläoanthropologen ihr Augenmerk. Neben Südmähren wird nun auch das heutige Niederösterreich immer wichtiger, um die Spuren dieser ersten modernen Menschen in Europa zu rekonstruieren. Allein in Krems gibt es vier paläolithische Fundstellen, darunter den Wachtberg. Dort wurde 2005 unter dem Schulterblatt eines Mammuts das etwa 27.000 Jahre alte "Zwillingsgrab" zweier Neugeborener gefunden.

Viel weniger bekannt ist die etwa 25.000 Jahre alte Fundstelle in Stillfried-Grub an der March. Dort förderte Walpurga Antl-Weiser seit 1993 zwei Kinderzähne und über 170 Perlen und Anhänger aus Elfenbein zutage. "Das Zwillingsbegräbnis ist optisch und emotional sehr viel bewegender, und heuer steht alles im Schatten der Venus von Willendorf", erklärt Antl-Weiser vom Naturhistorischen Museum in Wien.

Neben Elfenbeinschmuck fanden sich in Stillfried-Grub auch durchbohrte Muschelschalen, die ans Gewand angenäht oder ins Haar gesteckt wurden. "Diese Funde zeigen, dass Schmuck etwas Normales war und nicht nur als Grabbeigabe diente", so Antl-Weiser. Sowohl in Stillfried als auch am Wachtberg finden sich Spuren von temporären Behausungen, wie etwa Abdrücke von Zeltpfosten, die zeigen, dass die Menschen damals zumindest mehrere Monate lang an einem Ort blieben.

Neue Fragen aufgeworfen

Dennoch werfen gerade jüngste Funde in Niederösterreich neue Fragen auf: So sind die ältesten Fossilienfunde des Homo sapiens aus Rumänien 36.000 Jahre alt, die älteste Schicht in Willendorf, die sicher "uns" zugeordnet werden kann, ist aber mindestens 38.000 Jahre alt, wie die neuen Grabungen seit 2006 gezeigt haben. Das passe nicht zur Chronologie der Besiedelung Europas, wundert sich einer der Grabungsleiter, der Paläoanthropologe Bence Viola von der Uni Wien. Es ist wohl davon auszugehen, dass die Neuankömmlinge aus dem Südosten in Zentraleuropa auf die hier schon lange heimischen Neandertaler trafen. Man versucht dies anhand der Veränderung der Steinwerkzeuge zu rekonstruieren - und glaubt an einen Austausch der Kulturen.

Es sind in erster Linie die neuen technischen Möglichkeiten, die den Erkenntnishorizont der Forscher erweitern. Das Zwillingsgrab etwa wird mit einem Computertomografen durchleuchtet. "So konnten wir die beiden winzigen Skelette in situ belassen", erklärt die Anthropologin Maria Teschler-Nicola vom Naturhistorischen Museum Wien. Dort lagert der von Erde und einer Gipsbandage zusammengehaltene Block mit einer Oberfläche von lediglich etwa 50 mal 60 Zentimeter.

Das "Zwillingsgrab" ist auch ein weiterer Beleg für die temporäre Sesshaftigkeit der Steinzeitmenschen. Wären diese nach dem Begräbnis bald weitergezogen, hätten sich wohl Hyänen über das frische Grab hergemacht und die Knochen zerbissen, erläutert die Projektleiterin Christine Neugebauer-Maresch von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ähnliche Funde wird es in Zukunft am Wachtberg kaum mehr geben. Seit letzter Woche steht endgültig fest, dass über dem in fünf Meter Tiefe gelegenen Areal Einfamilienhäuser gebaut werden. "Uns war es nicht einmal vergönnt, den Zeitbereich, an dessen Rand die Zwillingsbestattung gefunden worden war, vollständig auszugraben", klagt Neugebauer-Maresch.

Das Problem sei das für derartige Situationen ungeeignete österreichische Denkmalschutzgesetz, das es nicht erlaube, paläolithische Fundstellen sinnvoll zu schützen. Es ist aus dem "Schatzparagrafen", der von Gold- und Silberfunden ausging, entstanden. "Unsere Schätze schauen anders aus. Das sind dunkle Bänder im Löß mit unscheinbaren kleinen Steinen, Knochen und Kohlestücken, und wenn wir viel Glück haben vielleicht einem Kunstgegenstand."

Es komme nicht auf einzelne Objekte, sondern auf den Zusammenhang der Funde an, die vor Ort dreidimensional "eingemessen" werden und deren Bedeutung sich in der späteren Auswertung ergebe und damit erst zum "Schatz" wird. "Aufgrund der Versiegelung durch die Überbauung kann der Lagerplatz nun nicht mehr vollständig rekonstruiert werden, zusammengehörige Stücke nicht gefunden werden und die Fundstelle wird nie den ihr zustehenden wissenschaftlichen Wert bekommen", so Neugebauer-Maresch.

Walpurga Antl-Weiser hat mehr Glück: Ihre Fundstelle bei Stillfried befindet sich auf einem Acker. Ist die Ernte abgeschlossen, erlaubt ihnen der Bauer zu graben, wobei sie nach jeder Grabungssaison wieder alles zuschütten müssen. (Oliver Hochadel/DER STANDARD, Printausgabe, 30.7.2008)