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"Ich mach das nur ausnahmsweise": Das Leben mit Bulimie ist das Leben mit einer heimlichen, gut versteckten Krankheit.

Foto: AP / Michael Probst

Auf den ersten Blick gibt es keinerlei Indizien, gar nichts Auffälliges, was darauf hinweisen würde, auch wenn man es schon weiß. Nichts an dieser jungen Frau wirkt instabil oder krankhaft. Sie sitzt da, auf dem Kaffeehaustisch steht ein Caffè Latte vor ihr, sie trägt ein lila _T-Shirt und eine kurze Cargo-Hose in Olivgrün. Sie ist mit dem Fahrrad gekommen. Die dichten rötlichen Haare sind kurz geschnitten, und die Mandelaugen passen gut zum hellen Teint ihrer Haut. Sie ist vielleicht 25 Jahre alt, und wer nichts von ihr weiß, würde sie als ganz normale junge Frau bezeichnen.
Sie selbst weiß, dass sie das nicht ist. In einer Mail vor dem Treffen hatte sich Bettina F. so beschrieben.: "Ach ja, ich bin normalgewichtig. Erwarten Sie bitte kein abgemagertes Mädchen. Bulimiker sind, entgegen der weitverbreiteten Meinung, meist normalgewichtig, manchmal untergewichtig, manchmal auch übergewichtig, aber hauptsächlich normalgewichtig. Einer der Gründe, warum sich die Krankheit so heimlich abspielt bzw. überhaupt heimlich abspielen kann. Aber darüber können wir dann ja reden ..."

Mut machen

Bettina F. hat Bulimie, Ess-Brech-Sucht. Deswegen sitzt sie hier im Kaffeehaus und wird in den nächsten Stunden ihre Geschichte erzählen, auch um, wie sie sagt, anderen Kranken zu helfen und Mut zu machen, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Essstörungen sind nämlich häufiger, als man denkt: Rund 200.000 Österreicherinnen erkranken im Laufe ihres Lebens daran – anders gerechnet hat eine von 15 Österreicherinnen eine Essstörung. Die Krankheit ist vor allem unter Frauen verbreitet – nur etwa jeder zehnte Patient ist männlich. Und unter den Essstörungen wiederum ist die Bulimie am häufigsten verbreitet. In Österreich leiden nach offiziellen Angaben rund 6500 Menschen darunter. Der Großteil der Betroffenen ist zwischen 20 und 30 Jahre alt – rund 900 Neuerkrankungen kommen pro Jahr dazu.
Bettina F. leidet seit zwei Jahren an Bulimie. 2006 hat sie zum ersten Mal erbrochen, und seither bestimmt diese Krankheit ihr gesamtes Leben. Am Anfang des Gesprächs erzählt Bettina über ihr Essverhalten, über gesundes Essverhalten, das sie, wie sie sagt, nie gelernt hat. Die Familie F. lebt am Land, die Rollenverteilung ist klassisch: Der Vater arbeitet, die Mutter ist Hausfrau. Bettina ist die Älteste von drei Schwestern. Zu Hause kam (und kommt bis heute) immer viel auf den Tisch, und alles ist deftig. Die Speisekammer ist bis oben gefüllt, vor dem Fernseher wird genascht, auch die Schwestern waren dicke Kinder. Sie selbst war immer eine Frustesserin.

Bettina leidet unter dem Dicksein, seit sie denken kann, sie fühlte sich immer als Außenseiterin. „Ich war die Dickste in der Klasse", erzählt sie. „Ich hatte immer Minderwertigkeitskomplexe." Für ihre Eltern war das nie ein Problem, für sie selbst ein gewaltiges. Kurz vor der Matura, bereits nach Jahren mit Diät- und Abmagerungsversuchen, nimmt Bettina dann tatsächlich ab. Sie fühlt sich dünner und hübscher. Viel selbstbewusster. Aus dieser Zeit gibt es einen Tagebucheintrag. Bettina F. schreibt mit 18 Jahren in ihr Tagebuch: „Ich denke, die ganze Zeit erbrechen gehen zu müssen!" Sie tut es nicht. Noch nicht.
Für das Umfeld, aus dem Bettina kommt, hat sie ihren eigenen Kopf. Dort, von wo Bettina herkommt, ist es nicht alltäglich, dass jemand maturiert, das machen nur die „Großkopferten". Bettina ist immer einsam gewesen, schon als Kind in der Familie, im Gegensatz zu den Schwestern hat sie sich in die sozialen Gefüge am Land nie integriert. Im Gegenteil: Sie wollte immer raus, und das so schnell wie möglich. Nach der Matura organisiert sie sich einen Au-pair-Job in den USA. Das Positive: Endlich war sie raus aus der Enge ihres Dorfs. Das Negative: In den USA nimmt Bettina mit einem Schlag 20 Kilo zu und kommt nach ihrer Rückkehr in einen endlosen Jo-Jo-Effekt und damit in die Dynamik, die sie über die Jahre mitten in eine schwere Essstörung führt.

"Fluchtversuche"

Heute beschreibt die 24-jährige Studentin das, was sie damals zu Beginn ihres Studiums begonnen hat, ziemlich nüchtern als "Fluchtversuche", damals hatte sie dieses Muster noch nicht durchschaut. Sie studiert Volkswirtschaft und Ethnologie und organisiert sich immer wieder Reisen ins Ausland. Am liebsten dorthin, wo es billig ist. In Vietnam hat sie über längere Zeit einen Freund. Doch die Beziehung ist unglücklich. Bettina: „Ich habe mich nicht angenommen, nicht geliebt gefühlt und sehr viel auf meinen Körper bezogen." In Vietnam hat vor mittlerweile zwei Jahren auch das Kotzen begonnen. „Wenn ich noch mehr abnehme, würden sich die Menschen Sorgen machen und sich mehr um mich kümmern!", denkt Bettina F. und beginnt einzelne Mahlzeiten zu erbrechen. Damals dachte sie: „Hey, das funktioniert, ich kann essen und die Kalorien wieder loswerden!" Da hat sie falsch gedacht.

Zwei Tage nach dem Treffen mit Bettina schickt sie eine viereinhalb A4-Seiten lange Mail, dicht beschrieben, in der sie noch einmal alle wichtigen Punkte klarmachen will. Unter anderem schreibt sie: "Die meisten Betroffenen, die ich kenne, rutschen, von einer Diät ausgehend, in die Bulimie rein. Es beginnt mit dem Erbrechen einzelner, normaler Mahlzeiten (...) und am Anfang fühlt es sich tatsächlich wie eine Lösung für das Verzicht-Problem an. Man denkt sich: Ich mach das nur ausnahmsweise, sobald ich mein Zielgewicht erreicht habe, hör ich wieder damit auf."

Bettina hört damit nicht auf. Im Gegenteil. Sie bekommt immer öfter Heißhungerattacken. Als sie wieder zurück in Österreich ist, geht es ihr für kurze Zeit besser. Aber nur, weil Lebensmittel hier viel teurer sind als in Vietnam, die Fressanfälle also schwieriger zu finanzieren sind. "Es ist totales Suchtverhalten", sagt Bettina, "alles wird irgendwann egal – auch die finanziellen und körperlichen Folgewirkungen." Für Bettina beginnt zu diesem Zeitpunkt auch der Alltag mit der Bulimie, der Alltag mit einer heimlichen Krankheit. Schon bald hat sie mehrere Fressattacken pro Tag und gibt dafür oft 60 Euro und mehr aus. Weder ihre WG-Mitbewohner noch ihre engsten Freunde oder die Familie wissen Bescheid. Sie kauft möglichst viel und möglichst billig. Vor allem süße Sachen, die wiederum leicht zu erbrechen sind: breiige Kuchen, Joghurts, Schokolade und Puddings, die Ausnahmen sind Pizza, Nudeln oder Chips.

Alle schauen

Im Supermarkt, den sie immer wieder wechselt, verdrückt sie oft schon an der Kassa ihren ersten Kuchen, in der U-Bahn oder auf dem Fahrrad stopft sie eine Tafel Schokolade nach der anderen in sich hinein. Und überallhin begleitet sie ein Gefühl der Paranoia: Was denken die Leute? Alle schauen mich schief an! "Ich erbreche, egal wo", sagt sie im Kaffeehaus so laut, dass man spürt, wie sehr sie in der Zwischenzeit daran gearbeitet hat, damit es ihr egal wird, ob andere Leute das Gespräch mithören und wissen, worum es geht. Sie übergibt sich zu Hause oder auch an der Uni, wenn sie Angst hat, von den WG-Kollegen erwischt zu werden, und auf sämtlichen öffentlichen Toiletten der Stadt. Ihr Leben ist oft ein Spießrutenlauf, zwischen dem WG-Kühlschrank (sie selbst kann keinerlei Speisevorräte haben) und einem mitgebrachten Kuchen einer Mitbewohnerin, wegen dem sie tagelang im Kreis läuft. Während InstitutskollegInnen an der Uni feiern, kotzt sie einen Stock darunter, weil das Buffet sie maßlos überfordert.

Feiertage, Essenseinladungen und Familienfeste sind für BulimikerInnen ein Horror, denn stets muss die Fassade der Normalität aufrechterhalten werden. BulimikerInnen führen eine Art Doppelleben. Sie sind MeisterInnen der Verstellung und sehr kreativ im Vertuschen ihrer Essstörung. Meist geht einem Fressanfall ein unangenehmes Gefühl voraus, eine Spannung, mit der die Betroffenen nicht umgehen können. Und das kann vieles sein: Wenn man kritisiert wird, sich ungeliebt, einsam oder überfordert fühlt, seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird oder einfach Angst hat. Oft reicht dann "ein Apfel mit 70 Kalorien", sagt Bettina oder nur der Vorsatz, einmal eine "normale Mahlzeit" zu sich zu nehmen, um eine Attacke auszulösen, die zum totalen Kontrollverlust führt. BulimikerInnen hassen und schämen sich dann dafür, fühlen sich als Versager und kommen durch diese Selbstabwertung immer tiefer in den fatalen Kreislauf der Krankheit.

Zu Hause in der Steiermark, erzählt Bettina F., ist es immer am schlimmsten, da verdrückt sie Mengen, die "kein normaler Mensch je essen könnte". Für Bettina aber "ist Fressen immer das Schöne und Erbrechen eine Qual". Es gibt auch BulimikerInnen, die das umgekehrt erleben. "Und das Erbrechen selbst", erzählt sie weiter, "funktioniert nicht immer gleich gut." Manchmal geht es schnell und schmerzlos, manchmal muss sie sich abquälen. In schlimmen Phasen ist ihr Hals vom vielen Erbrechen angeschwollen und taub, und sie muss sich "richtig ekelhafte Sachen" vorstellen, um überhaupt noch einen Würgereflex zustande zu bringen. Auch hat sie Bissspuren an den Händen vom Erbrechenwollen. Das Beste, sagt sie, ist, wenn nachher richtige Unterzucker-Symptome auftauchen, wie Schwindel, Zittern und Herzrasen – dann weiß sie, dass alles raus ist. Das Schlimmste ist, wenn sie mit vollgefressenem Magen schlafen gehen muss: "In solchen Momenten wünsche ich mir oft, einfach nur zu sterben."
Tage, an denen sie nicht erbricht, sind nicht weniger essgestört, weiß sie inzwischen. "Während ich hier sitze und über meine Krankheit erzähle, denke ich zum Beispiel ununterbrochen über die Kalorien des Caffè Latte nach und ob es ein Fehler war, ihn zu bestellen." 90 Prozent ihrer Gedanken, sagt sie, kreisen krankhaft ums Essen: Sie plant, wägt ab, verwirft. Hat Angst, dick zu sein, und Panik, dick zu werden. "Man kann mit der Bulimie, wenn man Glück hat, das Gewicht halten", weiß Bettina. Sie selbst hat nur noch am Beginn ihrer Erkrankung drei Kilo abgenommen. Denn BulimikerInnen kommen schnell in den sogenannten Hungerstoffwechsel. Das heißt, der Körper beginnt alles zu speichern, weil er sich darauf einstellt, dass ihm die Nahrung wieder rasch entzogen wird. Die Palette massiver körperlicher Folgeschäden ist lang: Kaliummangel, Haarausfall, Osteoporose, Verätzungen der Speiseröhre, Gastritis, Amenorrhoe, Ödeme, Zahn- und Zahnfleischschäden, geschwächte Immunabwehr und vieles mehr.

Aufarbeitungsprozess

Das alles waren aber keine Gründe für Bettina, etwas gegen ihre Bulimie zu unternehmen. Obwohl ihr Zustand immer schlimmer wurde. Sie beginnt, zusätzlich zwanghaft Kalorien aufzuschreiben und zwanghaft Sport zu betreiben. Im Winter rast sie bis zur Erschöpfung ihr Stiegenhaus rauf und runter, bis sie nicht mehr kann. Die Frequenz der Fressanfälle steigt weiter. Erst der Punkt, an dem sie beginnt, wieder zuzunehmen, ist für sie ein Alarmzeichen, an dem sie beschließt, sich Hilfe zu suchen. Sie geht zur Studentenberatungsstelle und spricht dort zum ersten Mal mit einer Therapeutin. Sehr schnell wird Bettina zu diesem Zeitpunkt klar, dass die Krankheit ein Ausdruck ganz anderer Probleme ist. Die Therapeutin überweist sie weiter zur FEM (Frauen-Eltern-Mädchen-Gesundheitszentrum) an die Semmelweis-Klinik. Dort beginnt ihre Auseinandersetzung mit der Krankheit und damit ein langwieriger, schmerzhafter und bis heute andauernder Aufarbeitungsprozess.
Doch die Fassade nach außen muss weiter halten: Freunde und Eltern wissen nach wie vor nichts. Auch während der wochenlangen Therapie in einer Tagesklinik kommt sie abends in die WG, als hätte sie ganz normale Tage an der Universität verbracht. Und an den Wochenenden fährt sich nach wie vor nach Hause zu den Eltern. Doch mit den fortschreitenden Therapiestunden bricht vieles auf – und Bettinas Zustand verschlechtert sich weiter. Ihre Selbstzweifel und ihr Selbsthass werden stärker. "Als sichtbares Zeichen, dass es mir schlechtgeht, habe ich auch mit dem Ritzen begonnen", sagt Bettina.
Erstes Ziel einer Therapie beim Auftreten von Bulimie ist es, zu lernen, dass die Krankheit nicht nur schlecht ist, sondern dass sie auch geholfen hat (und hilft), seelische Notzustände auszuhalten, um so zu überleben. In einer Therapie geht es zunächst nicht so sehr um eine Veränderung des Essverhaltens, sondern um tiefer liegende Probleme. Und die haben ihre Wurzeln vielfach in der Kindheit. In der Vorgeschichte vieler BulimikerInnen gibt es öfter Missbrauch, psychische/physische Misshandlung, Manipulation, Liebesentzug oder Instrumentalisierung. BulimikerInnen haben meist einen sehr schwachen Selbstwert, aber ein starkes Leistungsdenken. All das lernt Bettina F. in ihrer Therapie und entschließt sich nach mehr als eineinhalb Jahren massiven Leidensdrucks für einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus.

Klinik

Anfang des Jahres 2008 packt Bettina F. ihre Koffer und zieht in eine Klinik. Die Rechnung für den Selbstbehalt lässt sie vorsorglich von der Adresse ihrer Eltern an ihre Wiener Adresse umleiten. Einer einzigen WG-Freundin gibt sie Bescheid und sagt zum ersten Mal in ihrem Leben den Satz: "Ich habe Bulimie!" Heute weiß sie gar nicht mehr, wovor sie solche Panik hatte: Es gab nach ihrem Outing keine einzige negative Reaktion aus ihrem Umfeld.
Bettina F. sitzt und redet und rührt im Caffè Latte. Sie trinkt nur wenige Schlucke davon. "Ich fühle mich heute viel dicker als auf einem Foto vor zwei Jahren, obwohl ich heute weniger Kilos habe." Bettina F. braucht, wie andere Essgestörte auch, eine sogenannte Körperwahrnehmungsstörung, um ihre Bulimie aufrechtzuerhalten. De facto ist die junge Frau schlank und normalgewichtig. Bei einer Körpergröße von 1,65 Meter schwankt ihr Gewicht, je nach Zustand, zwischen 57 und 63 Kilo. Leute, die ihr sagen, dass sie nicht dick ist, hält sie für Lügner.
Warum? Das bleibt immer noch die Frage in der Geschichte der Bettina F. Und mitten im Kaffeehaus, mitten im Gespräch sagt sie: "In meiner Kindheit gab es Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen." Und sie schaut dabei dem Gegenüber direkt in die Augen. Seit ihren Therapien im Krankenhaus, bestehend aus Gruppentherapie, Mal- und Musiktherapie, Spannungsregulation und Körperarbeit, gibt es eine Diagnose, schwarz auf weiß, und die lautet: "komplexe posttraumatische Belastungsstörung". "Der Vater hat uns geschlagen. Mein Cousin hat mich sexuell belästigt", sagt sie. Dass sie als "Misshandlungs- und Missbrauchsopfer gehandelt wird, kann sie selbst bis heute nicht recht glauben. Aber die Diagnose bedeutet für sie auch, sich selbst einzugestehen, dass das alles wirklich passiert ist. Bettina spricht sehr explizit und äußerst eloquent über ihre Krankheit, auch hier hat sie einen Perfektionsanspruch an sich selbst. In kürzester Zeit hat sie sich selbst in einen Therapie-Speak perfekt eingearbeitet und gebraucht Fachbegriffe wie "emotional instabile Persönlichkeit" und "Borderliner", als würde sie das alles bereits jahrelang studieren.


Auf therapeutischer Ebene hat Bettina tatsächlich vieles verstanden, sagt sie selbst. Sie wüsste alles, was jetzt zu tun wäre. "Aber ich fühle mich vollkommen überfordert, es umzusetzen!" Seit einem Monat ist sie wieder "heraußen", wie sie das nennt. Im Stakkato-Ton erzählt Bettina F. die vergangenen Monate, so als wollte sie nie mehr aufstehen vom Kaffeehaustisch und rausgehen, zurück in ihr Leben. Sie spricht klar und atemlos zugleich, sehr eindringlich, fast manisch: Am Ende ihres Klinikaufenthaltes hätte sie wieder Rückschritte gemacht, so als wollte sie nicht raus aus dem geschützten Bereich ... Insgeheim hätte sie schon ihre Magersucht geplant, wollte sich runterhungern auf Sondergewicht, um es wieder "wert zu sein", aufgenommen zu werden ... Die Rückkehr in die Realität des Alltags mit nur einmal Gruppentherapie pro Woche ist hart ... eigentlich ist sie jetzt labiler als zuvor. Und: Neue Symptome sind dazugekommen: Bettina F. leidet zusätzlich unter einem Wiegezwang, nimmt stark überdosiert Abführmittel.

Authentisch und richtig

Sie fährt wieder zu den Eltern und spielt dort heile Welt. Doch nach der Therapie funktioniert das nicht mehr so recht. Sie will mit der Mutter reden – über die Familie, über ihre Kindheit. Und plötzlich bricht alles aus ihr heraus. Bettina erzählt vom Krankenhausaufenthalt, doch bis heute sagt sie nicht die ganze Wahrheit. Für die Mutter war sie dort wegen Depressionen. Bettina F.: "Essstörungen gibt es in ihrer Welt gar nicht."
Bettina erzählt und analysiert weiter, sie hat offenbar vieles begriffen. Ihre überdurchschnittliche Intelligenz ist spürbar: "Ich schwanke ständig zwischen Grandiosität und Minderwertigkeit", gibt sie zu, und je länger sie redet, desto klarer wird, wie unglücklich und verzweifelt diese junge Frau ist. Irgendwann, als sie über mehrere Stunden ihre Geschichte vor sich ausgebreitet hat, ist der Caffè Latte dann doch ausgetrunken und Bettina steigt auf ihr Fahrrad und fährt wieder nach Hause.
Auf dem Weg dorthin, zurück in die Wiener WG, stoppt sie noch an einem Supermarkt, um für einen Fressanfall einzukaufen. "Irgendwie hat mich das sehr unter Spannung gesetzt, so kompakt meine ganze Geschichte zu erzählen", sagt sie später. Bettina hat sich selbst sehr unter Druck gesetzt, alles "möglichst authentisch und richtig" zu erzählen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie hat selbst einen Brief an ihre Bulimie geschrieben und der beginnt mit "Liebe (verhasste) Bulimie!" (siehe Link am Ende des Artikels). Ob es ein Abschiedsbrief ist, weiß auch Bettina F. noch nicht.

Bulimie ist eine heimliche Krankheit, das Nicht-darüber-reden-Können ist Teil der Symptomatik. Die Betroffenen leiden oft jahrelang, ohne dass irgendjemand mitbekommt, was los ist. Ein erster wichtiger Schritt in Richtung Gesundung ist es, das Schweigen zu brechen. In der langen E-Mail, in der Bettina F. noch einmal sichergehen will, dass sie alles richtig erklärt hat, schreibt sie ganz zum Schluss: "Was meine persönliche Geschichte betrifft: Auch nach vier Monaten Therapie im Krankenhaus bin ich noch lange nicht gesund. Ich weiß, dass noch ein sehr langer Prozess vor mir liegt. Die Therapie einer Essstörung nimmt meist mehrere Jahre in Anspruch. Man braucht viel Geduld mit sich selbst und viel Mut und Kraft, an sich selbst zu arbeiten. (...) Oft verzweifle ich, oft bin ich unglaublich lebensmüde, und oft habe ich Angst, dass ich es niemals schaffen werde. Aber ich versuche im Hinterkopf zu behalten, dass ich es irgendwann schaffen kann."

"Je früher man Hilfe sucht, umso größer die Heilungschancen", hat Bettina F. selbst immer wieder gesagt. Ihre Chancen stehen also gut. (Mia Eidlhuber, DER STANDARD, Print, 2./3.8.2008)