Zur Person Youk Chhang (47) ist seit 1995 Direktor des Dokumentationszentrums von Kambodscha, das mit dem „Cambodian Genocide Justice Act“ in der Amtszeit von US-Präsident Bill Clinton und in Zusammenarbeit mit der Yale University gegründet wurde. Die Familie von Chhang wurde großteils von Pol Pots Schergen ausgelöscht. So wurde seine Schwester beschuldigt, Reis gestohlen zu haben. Zum Beweis wurde ihr der Bauch aufgeschlitzt – der Magen war leer.

 Alle Opfer des Regimes der Roten Khmer leiden unter posttraumatischen Störungen, erzählt der Leiter des Dokumentationszentrums von Kambodscha, Youk Chhang. Mit ihm sprach Andrea Waldbrunner.

STANDARD: Wie viele Dokumente über die Verbrechen der Roten Khmer sind bereits analysiert?

Chhang: Die Primärquellen wie Dokumente, Filme und Fotografien machen rund eine Million aus, dazu kommen Analysen, Übersetzungen und Interviews. Nicht zu vergessen sind Spuren von Folter, die Menschen heute noch am Körper tragen. Auch das sind Beweise.

STANDARD: Waren die Roten Khmer ebenso penibel, ihre Säuberungsaktionen gegen die Bevölkerung zu dokumentieren, wie die Nazis?

Chhang: Ja, aus ihrer Sicht haben sie ja nicht Verbrechen, sondern „ihren Erfolg“, wie viele Feinde eliminiert wurden, dokumentiert.

STANDARD: Weshalb folgten viele Menschen den Roten Khmer?

Chhang: Die Roten Khmer setzten ihre Politik schnell und kompromisslos um, zerstörten unsere Familienstrukturen, schickten Leute in alle Landesteile und Arbeitslager. Das hat die Menschen hilflos gemacht, ihrer Wurzeln beraubt. Daher hatten sie keine Kraft, Widerstand zu leisten. Die Roten Khmer schufen den Nimbus einer unsichtbaren Macht. Sie hatten „Augen wie Ananas“, sie waren immer und überall. Es gab aber Menschen, die flüchten konnten oder Handlanger des Regimes töteten.

STANDARD: Versuchten Rote-Khmer-Mitglieder dem entgegenzusteuern?

Chhang: Während der Herrschaft unter Pol Pot kaum. Die Indoktrination war unglaublich stark. Einfache Bauern wurden zu Befehlshabern, die ausführten, was der Allmächtige für das Land vorgesehen hatte. Wer nicht loyal war, wurde unter Druck gesetzt: Führst du die Folter nicht aus, wird sie dir selbst geschehen.

STANDARD: Wie wird das Gericht unter UN-Schirmherrschaft in der Öffentlichkeit betrachtet ?

Chhang: Es ist wichtig für uns alle, und die Menschen diskutieren darüber. Aber viele schämen sich der Vergangenheit oder des Verlusts ihrer Identität, daher gibt es eine reservierte Rezeption.

STANDARD: Gibt es Gerechtigkeit im Namen der Opfer?

Chhang: Manche möchten die Vertreter der Roten Khmer schlichtweg hängen sehen. Wie auch immer das Urteil ausfallen wird, man muss mit allen Reaktionen rechnen. Für die Opfer selbst kann es keine gerechte Strafe geben.

STANDARD: Wie gehen die Menschen heute mit ihrem Trauma um?

Chhang: Praktisch jeder hat posttraumatische Störungen. Die Reaktionen der direkten Opfer liegen irgendwo zwischen Schweigen und Gewalt. Die Roten Khmer haben die Menschen wie Tiere behandelt. Kommt die Erinnerung daran hoch, entlädt sich die Gewalt eruptiv. Die jüngere Generation beginnt Dinge zu hinterfragen und sucht im Internet nach der Geschichte.

STANDARD: Gibt es Hilfe von öffentlicher Seite?

Chhang: Kommt darauf an, wie man das definiert. Es wurden Pagoden und Museen errichtet, damit die Menschen Orte haben, an denen sie Trost und Verständnis finden. Kliniken, in denen psychische Erkrankungen behandelt werden, gibt es nicht. Man würde dort auch nicht hingehen, denn das würde bedeuten, man sei verrückt. Finanzielle Kompensation ist unmöglich. Es gibt keinen Ersatz für das, was die Menschen verloren haben.

STANDARD: Wird in den Schulen über die Verbrechen gelehrt?

Chhang: Nein, denn die wissen nicht, wie man das unterrichten soll. Aber wir haben jetzt ein Schulbuch herausgegeben, das in der Oberstufe verwendet wird.

STANDARD: Wurden die Verbrechen von Regierungsseite zugegeben?

Chhang: Wir kennen das Konzept der Schuld nicht. Ein Kambodschaner würde Sie anlächeln, um Sie um Verzeihung zu bitten. ZUR PERSON:  (DER STANDARD, Printausgabe, 7.8.2008)