Die jüngste Eskalation im seit langem schwelenden Konflikt zwischen Georgien und Russland um das von Georgien beanspruchte, mehrheitlich von Russen bewohnte Südossetien hat weltweit für Bestürzung gesorgt. Nachdem georgische Truppen einen Großteil Südossetiens besetzt hatten, schickte das Moskauer Verteidungsministerium Panzerkolonnen in Richtung der umkämpften Hauptstadt Zchinwali. Die Gewalt hätte verhindert werden können, wären früh genug direkte Verhandlungen aufgenommen worden, sagt der Tifliser Friedensaktivist George Khutsishvili im Interview mit derStandard.at.
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derStandard.at: Die jüngste Eskalation schien nach den Vorfällen und Ankündigungen der vergangenen Monate unausweichlich. Warum passiert sie genau jetzt?
George Khutsishvili: Dass der Zeitpunkt bewusst gewählt wurde, glaube ich nicht. Es eskaliert ja schon seit längerer Zeit, wir hören seit Monaten von Explosionen und Zusammenstößen im Konfliktgebiet. Es gab auch schon einige Treffen zwischen Diplomaten aus Russland und Georgien, das Problem ist, dass es bisher keine direkten Verhandlungen zwischen Südossetiern und Georgiern gegeben hat. Das hat vor allem den Grund, dass Südossetien de facto von den russischen Behörden verwaltet wird. Das hat es für Georgien schwierig gemacht, ein Gegenüber zu finden, mit dem es über die tatsächlichen Gründe für die Spannungen verhandeln könnte. Es gab keine Verhandlungen, die eine weitere Eskalation hätten verhindern können.
derStandard.at: Ist der USA-freundliche Staatschef Michael Saakaschwili, der in den vergangenen Monaten immer wieder auf die Rückholung der Provinz gepocht hatte, der einzige Sieger dieses Konflikts?
George Khutsishvili: Präsident Saakaschwili wird davon sicher profitieren. Ganz einfach deshalb, weil sich die Bevölkerung in Extremsituationen immer um ihre Führung schart. Besonders, wenn diese an patriotische Gefühle appelliert. Probleme, die die Menschen in friedlichen Zeiten mit dem Präsidenten haben, werden sie jetzt erst einmal hintanstellen und sich seinen Appellen anschließen.
derStandard.at: Das Moskauer Verteidigungsministerium spricht von mehr als zehn getöteten russischen Soldaten während der ersten georgischen Offensive. Wie hat sich die russische Friedenstruppe bisher in dem Konflikt verhalten?
George Khutsishvili: Die russischen Friedenstruppen verhalten sich, soweit ich das abschätzen kann, im Rahmen ihres Mandats. Das heißt, sie greifen nicht direkt in die Kämpfe ein, sondern versuchen, die Konfliktparteien auseinander zu halten. Seit die Gewalt eskaliert ist, haben die Friedenstruppen sehr umsichtig gehandelt und gemerkt, dass sie den Konflikt nicht mehr aufhalten können, weil die Situation nicht mehr unter ihrer Kontrolle war. Es ist aber unausweichlich, dass es in solchen Situationen zu Todesopfern kommt, auch wenn die Schüsse offenbar nicht den Russen gegolten haben.
derStandard.at: Georgien hat eine langfristige NATO-Perspektive in Aussicht gestellt bekommen. Welchen Einfluss hat dies auf die aktuellen Ereignisse?
George Khutsishvili: Russland steht der NATO-Perspektive Georgiens stark ablehnend gegenüber und hat den Konflikt um Abchasien und Südossetien als Instrument benutzt, um die Integration (in die NATO, Anm.) zu verhindern. Als Moskau gesehen hat, dass sich Georgien dadurch nicht abbringen lässt, dürfte es versucht haben, maximalen politischen Druck auf Tiflis auszuüben.
derStandard.at: Könnten die Kämpfe um Südossetien die NATO-Pläne Georgiens also durchkreuzen?
George Khutsishvili: Die Praxis hat gezeigt, dass es innerhalb der NATO-Partnerschaft einen Konsens gibt, neue Mitglieder erst dann aufzunehmen, wenn militärische und politische Konflikte mit Nachbarländern gelöst sind. Die Aufnahme in die NATO ist für Georgien aber ohnehin eher eine langfristige Perspektive. Erst einmal geht es um den Membership Action Plan (MAP), über den beim NATO-Ministerratstreffen im Dezember verhandelt wird. Georgien dürfte dort keine Berücksichtung finden, auch aufgrund der aktuellen Situation.
derStandard.at: Wie ist die Stimmung auf den Straßen von Tiflis, ist dort viel von dem Konflikt an der Peripherie des Landes zu spüren?
George Khutsishvili: Ich bin heute durch die Straßen von Tiflis gefahren und kann sagen, dass es ziemlich ruhig ist hier. Die Menschen sind aber sehr vorsichtig, jeder versucht natürlich, nahe an Informationsquellen zu sein und Kommentare im Internet zu vergleichen. Jeder hofft, dass das Blutvergießen möglichst gering sein wird und dass es bald zu Verhandlungen kommt.
derStandard.at: Wäre eine Wiedervereinigung mit Südossetien in der georgischen Bevölkerung überhaupt populär?
George Khutsishvili: Wenn es ohne großer Konfrontation mit der Zivilbevölkerung und ohne allzu großer Verluste vonstatten geht, würde es das ganze Land begrüßen. Wenn aber ein Guerilla-Krieg beginnt, würde die Meinung schnell umschlagen. Schon zu Sowjetzeiten gab es immer wieder Konflikte zwischen Georgiern und Abchasen, mit den Osseten hingegen nie. Die beiden Völker lebten sehr lange Zeit eng zusammen und haben sich stark gemischt. Zu Beginn der Neunzigerjahre wurde dieser Streit künstlich geschaffen. Es gibt die Hoffnung, dass sich die ossetische Bevölkerung auf einen Kompromiss einigen kann, die georgische Jurisdiktion über Südossetien zu akzeptieren. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 08.08.08)