Die Tänzerin Sandy Williams (vorne) und der Pianist Alain Franco spielen in "Zeitung" Antipoden zum Medium Zeitung.

Foto: Sorgeloos

Wien - Viele Werke der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker sind für ein großes Publikum ausgerichtet, so auch eine ihrer jüngsten Arbeiten, Zeitung, die heute noch einmal bei ImPulsTanz in der Halle E des Museumsquartiers zu sehen ist.

Das Stück für neun Tänzer, das in Kooperation mit dem Pianisten Alain Franco und dem Choreografen David Hernandez entstanden ist, verweist über seine Konstruktion auf die Etymologie des Begriffs "Zeitung". Im 16. Jahrhundert bedeutete das Wort sowohl "Reife" als auch "Botschaft" oder "Nachricht". Erst später übertrug sich die Bezeichnung für den Inhalt auf das Medium.

Obwohl De Keersmaeker sich mit dieser Begriffsgeschichte laut eigener Aussage nicht beschäftigt hat, trifft ihre Arbeit einen entscheidenden Punkt im klassischen Selbstverständnis von Tanz. Diese Kunstform findet überwiegend in dem Trägermedium Theater statt, das in allen seinen Formen weltweit eine große Publikumsmenge anspricht. In dieses Medium setzen Autoren ihre Botschaften, die etwa im Tanz meist mit fünf parallelen Kommunikationssystemen formuliert sind: der Choreografie, der Musikkomposition, einer visuell kodierten Bühnenarchitektur und Körperrepräsentation sowie der Organisation von Licht.

Da De Keersmaeker in Zeitung eine selbstreferenzielle Botschaft formuliert, also die Funktionen zweier ihrer fünf Kommunikationssysteme - jene der Musik und des Tanzes - zum Thema macht, schwenkt sie in einen "ausgereiften" Diskurs ein: Die Untersuchung zum Verhältnis zwischen Klang und Bewegung ist ein extrem ausgereiztes Thema im Tanz.

Die Choreografin hat Bach, Schönberg und Webern zu einem zweistündigen Medley verwoben, das sie mit Bewegungsmustern konfrontiert. Claudio Abbado hat 1993 mit den Wiener Philharmonikern ein Album mit Werken der genannten Komponisten produziert, mit Werken, von denen sich neun Passagen auch in Zeitung finden.

Die Tänzer folgen der Musik nur bedingt, immer aber sind sie in Reaktion auf die Pläne der Klangarchitektur tätig. Die individuell gestalteten Kostüme deuten die Tänzer als Charaktere an. Neun junge Leute mit erheblichen Fähigkeiten spielen ein Kommunikationsspiel, das an der Rückseite der Sprachspiele im Massenmedium Zeitung angesiedelt ist. Denn Zeitung füllt seinen Raum mit gestischer Poesie, die nach von geometrischen Prinzipien beeinflussten Regeln komponiert und mit musikalischer "Dichtung" parallel geführt wird. So weist sich De Keersmaeker wieder als virtuose Poetin aus. Doch die Figuren und ihre Handlungen bleiben so blass, wie das Bühnenbild bloß Dekor darstellt.

Ein weißes Rechteck trägt eine abstrakte Zeichnung. Einige Stellwände, die umgedrehten Maler-Leinwänden ähneln, grenzen den Performanceraum unmotiviert ein. Darin dünnt der komplex auftretende "Text" des Ganzen immer wieder aus. Und vor allem: Die durch Webern gesetzte radikale Geste des Modernismus bleibt im Tanz ohne Entsprechung. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/Printausgabe, 09./10.08.2008)