Als sich Bruno Kreisky entschlossen hatte, den höchst populären und erfolgreichen Unterrichtsminister Fred Sinowatz zum Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzenden zu machen, dachte er, einen "sozialistischen Julius Raab" nominiert zu haben. Tatsächlich ist es dem Nachfolger des "Sonnenkönigs" nachhaltig gelungen, die Chancengerechtigkeit beim Bildungszugang zu verbessern und erste Weichenstellungen für einen aufgeklärten und demokratischen Schulunterricht zu stellen (etwa im Bereich Politische Bildung und in der Sexualerziehung). Aber Fred Sinowatz sollte sich nicht im emotionalen kollektiven Gedächtnis der Österreicher einprägen. Selbst seine unbestrittenen Leistungen bei der Bildungsreform sind vergessen.

Zu Unrecht - Fred Sinowatz, der sich seiner Grenzen in der Außenwirkung bewusst war, sollte in einer der schwierigsten Phasen die Staatsgeschäfte der II. Republik übernehmen - geprägt vom Schwund nationalstaatlicher Lenkungsmöglichkeiten der Ökonomie aufgrund der beginnenden Globalisierung und der Weltwirtschaftskrise. Gleichzeitig musste er nach 13 Jahren sozialdemokratischer Alleinregierungen eine ungeliebte Koalition der SPÖ mit einer orientierungslosen FPÖ eingehen, die zudem vergeblich versuchte, zu einer liberalen Partei zu mutieren und sich vom Image der "ehemaligen Nazi-Mitglieder-Partei" zu befreien.

Schon 1985 geriet die FPÖ-Transformation aus dem Ruder, als FPÖ-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager den zu Recht verurteilten SS-Kriegsverbrecher und überzeugten Deutschnationalen Walter Reder unmittelbar nach dessen Haftentlassung "empfing." . Fred Sinowatz, der belesene Historiker, erkannte sofort, dass sich die österreichische Gesellschaft einem brisanten Konflikt über Österreichs Rolle zur Zeit des NS-Regimes näherte, unterschätzte jedoch den Prozentsatz jener, die mit der "Opferdoktrin" brechen wollten.

Die Debatte eskalierte bereits ein Jahr später in der Auseinandersetzung um die lückenhafte Kriegsbiographie des ÖVP-Präsidentschaftskandidaten und Ex-UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim. Bis zum heutigen Tag ist trotz einer gerichtlichen Verurteilung von Sinowatz strittig, wer tatsächlich die Medien in den USA und im Lande selbst mit Material wie der Wehrstammkarte gefüttert hat.
Es wäre allerdings verkürzt, die Sinowatz‘ Kanzlerschaft auf Reder-Frischenschlager- und Waldheim-Debatten zu reduzieren. Es gab und gibt wenige Politiker, die sich so intensiv wie er mit den weltweiten sozialen und ökonomische sowie den beginnenden geopolitischen Transformationen auseinandersetz(t)en. West-Europa sah sich in jenen Jahren angesichts der Wachstumsraten in Asien auf der ökonomischen Verliererstraße, und auch das kommunistische Ost- und Südosteuropa bzw. die Sowjetunion waren in der Krise. Die Verstaatlichte Industrie in Österreich konnte nicht rasch genug gegensteuern und blieb in vereinzelten, teilweise kriminellen, Versuchen, gegenzusteuern, stecken - z. B. bei den missglückten Erdöltermingeschäftspekulationen der Voest-Handelsfirma-Intertrading oder den neutralitätsrechtlich verbotenen Waffengeschäften der staatlichen Noricum. Letztere führten zu Gerichtsverfahren, in denen aber Sinowatz freigesprochen wurde. Derartige Skandale und politische Feuerwehraktionnen verhinderten jedoch bis 1986 eine rasche Umsetzung seiner Reformpolitik und trafen den Kanzler auch persönlich.

Doch erst die Auseinandersetzung mit den Skandalen - politisch, medial oder vor Gericht - brachte jenen politischen Manövrierraum, den eine erfolgreiche Transformationspolitik benötigte. Die Regierung Sinowatz sollte diese Zeit nicht mehr haben, die großen Koalitionen unter Kanzler Vranitzky und den ÖVP-Vizekanzlern Mock, Riegler, Busek und Schüssel war dann in der strategisch günstigeren Position und profitierten von den neuen Freiräumen.

Sinowatz hatte die Probleme seiner Regierungszeit sehr wohl erkannt, forcierte kollektive Entscheidungsprozesse, konnte seine Erkenntnisse aber nur selten medial transportieren bzw. unmittelbar umsetzen. Auch seine ostentative und ehrliche Bescheidenheit wurde von vielen Menschen fehlinterpretiert: sie passte nicht mehr in eine Zeit, die zunehmend auf starke individuelle Führungspersönlichkeiten mit permanenter Medieninszenierung abstellte.

Sein traditioneller Einsatz für eine keineswegs umweltbewusste, sondern rein wirtschaftsorientierte Energiepolitik erleichterte das langsame Erstarken einer Grünpartei und führte zu zunehmenden Vertrauensverlust bei jungen Wähler/innen. Die heftige Kontroverse um das geplante Donaukraftwerk in der Stopfenreuther Au bei Hainburg hatte jugendlichen und Eliten-Widerstand sowie die Kronen Zeitung gegen Sinowatz aufgerufen. Sinowatz entschloss sich gegen manche Ratgeber in letzter Minute zu einer weihnachtlichen Nachdenkpause, um es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen vor Ort kommen zu lassen, und verlängerte diese 1985 ad infinitum. Doch selbst diese wichtige Konfliktregelung wird ihm nicht positiv angerechnet.

Im Vergleich zu vielen Vorgängern und manchen Nachfolgern bewies Fred Sinowatz schließlich auch höchsten politischen Instinkt in der Wahl des geeignetsten Nachfolgers als Bundeskanzler und im Zeitpunkt des Rückzugs aus der Politik. Am Tag nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten trat er als Bundeskanzler, nicht aber als SPÖ-Vorsitzender zurück und nominierte Finanzminister Franz Vranitzky. - Eines Tages, so bleibt zu hoffen, wird zumindest die Geschichtsschreibung Fred Sinowatz als unterschätztesten Kanzler Österreichs entdecken und kritisch zu würdigen wissen. (Oliver Rathkolb/DER STANDARD Printausgabe, 13. August 2008)