Salzburg - Ganz nach dem Muster einer Kontinentalverschiebung hat sich am Dienstag in der Kollegienkirche der heuer dominierende "Kontinent Sciarrino" mit dem zum nächstjährigen Salzburger Jahresregenten der musikalischen Moderne ausgerufenen Luigi Nono überlappt.

Nono hat nämlich La lontananza nostalgica utopica futura. Madrigale per piú "caminantes" con Gidon Kremer (was auf Deutsch "Die nostalgisch-utopische zukünftige Ferne. Madrigal für mehrere ‚Wanderer‘ mit Gidon Kremer" heißt) Salvatore Sciarrino zugeeignet, weil er nach Nonos Dafürhalten ein "caminante esemplare" - ein vorbildlicher Wanderer - ist.
Das Werk besteht aus Gesprächen des Komponisten, die er mit Gidon Kremer im Februar des Jahres 1981 über die Kunst im Allgemeinen, aber auch über Politik, Liebe und Religion führte und zu denen der Letztere improvisatorische Protokolle angefertigt hat.

Sie bestehen aus Bach, Beethoven, Schumann und Brahms sowie aus Gesprächsfetzen und Geräuschen, die der legendäre Hans Peter Haller in seinem Freiburger Experimentalstudio unter Luigi Nonos Anleitung live gemischt und als achtspurige elektroakustische Komposition in den Raum projiziert hat. Nono selbst hat nämlich Hans Peter Hallers Bedeutung für sein Spätwerk mit jener von Joseph Joachim verglichen, die dieser für das Violinkonzert von Johannes Brahms hatte.

Sechs Notenpulte

Dazu hat Nono noch eine Solostimme für einen Geiger angefertigt. Der Geiger, in diesem Fall eine Geigerin, Melise Mellinger, muss sich ihren aus sechs entfernt platzierten Notenpulten aufgelegten Part erwandern und diesen in einem mehr als einstündigen Duett mit Salvatore Sciarrino, der als Klangregisseur des vorgefertigten Bandes fungierte, gestalten.

Angesichts der verhaltenen Tongebung durch den Komponisten wurde man stets zu äußerster Konzentration angehalten. Sie wurde aber überdies noch weiter strapaziert, weil die Glockenschläge der Turmuhr, das Folgetonhorn eines Rettungsfahrzeugs und das Geschnatter der Passanten vor den Türen der Kollegienkirche vom programmierten Höreindruck subtrahiert werden mussten.

Diese asketische Bußfertigkeit wurde allerdings durch das zweite Nono-Werk, No hay caminos, hay que caminar ... Andrej Tarkowskij, belohnt. Die venezianische Mehrchörigkeit der Renaissancemusik wurde in der Wiedergabe durch die Basel Sinfonietta unter Fabrice Bollon auf geradezu kulinarische Weise neu belebt. (Peter Vujica / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.8.2008)