Raunen im Blätterwald: Mit ihrem aktuellen Album "Visiter" machen diese drei Herren von sich reden.

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Ständig müssen neue Genres erfunden werden! Innerhalb einer Musikwelt, die ohne Unterlass Bahnbrechendes und Merkwürdiges in die Wahrnehmung spült und sich zunehmend in eine Vielzahl von Sub- und Subsubnischen mit der jeweiligen hyperinformierten Spezialhörerschaft auflöst, die untereinander nur mehr wenig verbindet, wollen hier und da Markierungen als - unverbindliche - Orientierungspunkte in die Landschaft gestellt werden.

Die durchgekaute Weisheit bleibt - wenngleich nur mehr von geringem Erkenntnisgewinn - heute noch wahr, dass die Dinge einen Namen brauchen, sich so besser ins Regal stellen, vom Publikum merken lassen. So konnten sich für eine der Gitarrenmusik (mit großzügigem Interpretationsspielraum) zugetane Klientel in den letzten zwei, drei Jahren vor allem mit der guten alten Schublade "Folk", wahlweise mit dem Zusatz Freak-, Weird- oder Anti- versehen, überraschende Einigungseffekte erzielen lassen.

Nicht dass Folk jemals von der Bildfläche verschwunden gewesen wäre, selten zuvor jedoch war er mit so viel glänzendem Lifestylepotenzial aufgeladen - inklusive der damit einhergehenden modetechnischen Koketterie mit den Insignien des Feindes von einst: dem haarigen Hippie-Chic samt Batik-T-Shirt. Eine Entwicklung, die angesichts der schön zyklischen Bewegung der Popkultur sicherlich als Backlashreaktion auf das unterkühlte Postpunk-Revival im gestrengen Hemd der Jahre davor gelesen werden darf.

Unter dem Deckmantel des Folk war und ist dabei so einiges möglich: vom mit der New Yorker Kunstszene verbandelten Animal Collective, das sich von anfänglichem krautigem Rascheln im Gebüsch beständig zur großen psychedelischen Popband wandelt, über das relativ herkömmliche, kauzige Waldschratgeschrammel eines Devendra Banhart, die Wiederentdeckung von Vashti Bunyan, der englischen Grande Dame des naturbelassenen Folks, bis hin zu den gänzlich frei fließenden Klangforschungen von Kollektiven wie Sunburned Hand of the Man oder Jackie-O Motherfucker. Eine aktiv miteinander verknüpfte Szene dieser und der vielen, vielen anderen über den Erdball versprengten, zum Teil unter gänzlich anderen Vorzeichen operierenden Musiker manifestiert sich dabei größtenteils bloß auf dem Papier.

Mit seinem hier am freien Experiment interessierten, da brav gängige Songschemata durchdeklinierenden, stark percussionlastigen Schrammelpop fügt sich das in San Francisco ansässige Duo The Dodos mühelos in dieses Raster eines schwammigen Folk-Begriffs. So hat die US-amerikanische Musikpresse Visiter, dem aktuellen, zweiten Album der Band, das nach rund fünfmonatiger Verzögerung nun auch hierzulande regulär erschienen ist, bereits Vergleiche mit dem fragilen Schwermutspop der aus Brooklyn stammenden Band Grizzly Bear oder eben dem Animal Collective in deren melodieverliebteren Momenten angedeihen lassen und die Platte dabei durchgehend mit wohlwollenden Bewertungen bedacht.

Am Anfang der Dodos stehen, wie so oft, ein Mann und seine Gitarre: Der Multiinstrumentalist Meric Long zieht unermüdlich durch die Kellerlöcher Kaliforniens, veröffentlicht 2005 eine EP mit dem Titel Dodobird, um kurz darauf in Logan Kroeber einen Musiker zu treffen, der die Vorliebe für von heftigem Gerassel und Geklopfe durchsetzte Popmusik teilt. Long hat zuvor die Musik, insbesondere Rhythmus- und Trommelkunde der westafrikanischen Ewe studiert, während Kroeber auf der gegenüberliegenden Seite des Spektrums in einer dem Progressive Metal verpflichteten Band krakenarmig verdeutlichte, dass der Drummer mehr ist als meinungsloses Metronom. Der Bandname wird auf The Dodos verkürzt, und unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit wird 2006 das erste Album Beware of the Maniacs aufgenommen.

Erst mit Erscheinen des aktuellen Albums "Visiter" geht Raunen durch den Blätterwald, der das Internet ist. Eine Platte, die schüchtern zwischen den Stühlen sitzt - so wie ja heute nahezu jeder Künstler ein Dazwischen-Sein, eine Schnittmenge, ein Bindeglied zwischen Genres darstellen muss - und sich aus einer wilden Menge unterschiedlichster Stilistiken des Folk bedient, ohne dabei konstruiert zu klingen. Neben bisweilen mit weiblicher Unterstützung vorgetragenem Singsang im Sinne von Simon & Garfunkel integrieren die Dodos eruptive Krachmomente in die Stücke oder lassen diese, die Formen auflösend, letztlich völlig aus dem Ruder laufen. Meric Long übt sich im Fingerpicking oder schrubbt freundliche Bluesriffs aus der Gitarre, derweil bringt Logan Kroeber an den Schlaginstrumenten die Glocken zum Klingen, lässt das Metall scheppern und die Synkopen tanzen - es rappelt im Karton! Das rhythmische Gerüst ist hier gleichberechtigter Bestandteil, nicht bloßes, der Melodie zuarbeitendes Beiwerk.

Neben dem Folk-Aspekt befeuert dieses offen vorgetragene Interesse am Rhythmus die Rezeption gleichzeitig aus einer anderen Ecke der Trendfabrik: Gerne werden die Dodos in die Nähe von Vertretern einer neuausgerufenen, weichgezeichneten "Weltmusik" gerückt, wie z. B. Vampire Weekend oder The Ruby Suns, die sich ja ebenfalls so ihre Gedanken zu Highlife und afrikanischer Polyrhythmik machen. So ist Visiter ein kleiner Baustein innerhalb einer ortlosen Szene ohne Statuten und Versammlungssaal und, wie nebenbei, eines der Alben des Jahres. Man muss die ganze Angelegenheit ja nicht gleich Afro-Folk nennen. (Philipp L'Heritier / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.8.2008)