Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Es war schon im Winter. Da stand ich ein bisserl kasweiß in der Küche - und J. sagte, er habe es mir doch ohnehin gesagt. Aber auf ihn habe ja keiner gehört - und jetzt, grinste J., hätte ich eben auf die harte Tour zu verstehen gelernt, wieso er seine Schlapfen immer vor der Küchentür stehen lassen habe.

J. ist Krankenpfleger. Intensivkrankenpfleger. Deshalb hielt er sich auch an das, was man in seinem Beruf vermutlich irgendwann in die DNS implantiert bekommt: Zuerst schaute er, ob ich eh noch am Leben war. Dann befahl er mir, mich hinzusetzen und durchzuatmen.

Elektroschock

Erst dann kam der erhobene Zeigefinger: Statische Aufladungen, sagte J., sei eben tückisch - und ich solle mir nur mal kurz vorstellen, was wohl passiert wäre, wenn ich statt des Küchenwasserhahnes irgendein Gerät aus seinem täglichen Arbeitsumfeld angegriffen hätte. Am besten eines, das einen Menschen gerade noch am Leben hält.

Wir waren auf einer Skihütte. Irgendwo in Osttirol. Und weil J. und ich uns mit dem Aufstehen am leichtesten taten, hatten wir uns für die Frühstücksschicht gemeldet: Eine Woche lang eine halbe Stunde früher aufzustehen ist immer noch besser, als nach einem heftigen Tourentag für eine ganze Gruppe zu kochen und dann verkrustete Pfannen zu schrubben.

Funktionsbodenbelag

Die Alpenvereinshütte war ziemlich neu adaptiert. Auch die Küche. Früher, hatte uns ein Local gesagt, sei der Boden hier aus Holz gewesen. Jetzt aber war in der Küche ein neuer, funktionaler Boden. J. hatte nur kurz hingeschaut - und seine Crocs ausgezogen: Kalte Zehen oder nasse Socken, hatte er gesagt, wären ihm beim Kochen allemal lieber, als Stromschläge. Wir anderen hatten nur gelacht.

Aber dann, am dritten Morgen, schnalzte es. So, dass es J. noch am anderen Ende der Küche hörte. Und zwar über die ziemlich laute Musik drüber. Am Schnalzer war ich schuld: Ich hatte den Wasserhahn angegriffen - und bekam einen Stromschlag, der sich echt heftig anfühlte (obwohl das angeblich nichts mit der tatsächlichen Gefährlichkeit zu tun hat. Hat jedenfalls mein Physiklehrer einmal gesagt.) war. Und der J., den sonst so leicht nichts erstaunt, einen deftigen Fluch entlockte. Obwohl ich den zuerst nicht verstand.

Schweizer Fluch

Denn J. fluchte auf schweizerdeutsch. Und er verfluchte meine Schuhe: Er habe, erklärte er mir nachher, bisher nämlich geglaubt, dass das Gummipantoffel-Verbot in der Schweiz eine rein theoretische Vorsichtsmaßnahme sei. Und eigentlich habe er seine Schlapfen deshalb aus reiner Routine vor der Tür stehen lassen - weil der Mensch ein Gewohnheitstier sei. Und die meisten Arbeitsunfälle hätten Unachtsamkeit gepaart mit falsch eingelernten Routinen zur Ursache.

Ich sah an meinen Beinen hinunter: Meine hässlichen, aber bequemen Pantoffeln taten, als wüssten sie von nichts. Beim Frühstück erzählte J. dann von dem kleinen Zwischenfall - und wurde verlacht: Zwei in der Gruppe waren Wiener Spitalsärzte. Ein dritter Tourengeher war irgendwas Technisch-Wichtiges in einem Planungsbüro, das auch mit Krankenhauseinrichtung zu tun hat.

Hysterische Eidgenossen

Zu dritt nahmen sie J. in die Mangel. Und verhöhnten den armen Krankenpfleger stellvertretend für die ganze eidgenössiche Nation: Jaja, diese Schweizer. Ein wirklich hysterisches Völkchen. Haha. Ein bisserl mehr Gelassenheit wäre doch wirklich angebracht: In Wien, so die Ärzte, trügen mittlerweile größte Teile des Spitalspersonals diese feinen Gummipantoffel. Und davon, dass das gefährlich sein könnte, könne keine Rede sein. Denn, assistierte der Techniker, gerade im Intensivbereich achte man von Haus aus darauf, dass es zu keinen elektrostatischen Auf- und Entladungen kommen könnte. Dazu habe es den Markteintritt der Cröcse nicht gebraucht.

J. ist weder rechthaberisch noch streitsüchtiger: Er sei, meinte er damals, nur ein einfacher Krankenpfleger - und in solchen Fragen befolge er lieber die Anweisungen der Experten, als sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Und wenn Wiens Spitäler anders geerdet wären als die der Schweiz, wäre ihm das auch recht.

Damit war die Sache vergessen. Am Mittwoch aber schickte mir J. ein Mail: ganz daneben, meinte er, dürfte er wohl doch nicht gelegen haben. Der Technisch-Wichtige habe ihm gerade ein Stück Zeitung gemailt. Mit einer Meldung, dass man nun auch in Österreich entdecke, was die Schweizer längst wüssten. Das sei, habe der Techniker gemeint, ihm jetzt fast ein bisserl peinlich. Und J. habe deshalb bei der nächsten Tourenwoche zwei Österreicherwitze gut. Vielleicht ja auch drei. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 14. August 2008)