Standard: Ich habe Ihnen nichts mitgebracht. Habe mich mit einem Mitbringsel zuletzt so in die Nesseln gesetzt, dass das Interview nichts wurde. Also, bitte um Verständnis.
Holzinger: Ich habe gar nicht damit gerechnet.
Standard: In der Einfahrt zum Gerichtshof stehen sehr viele
Räder. Sie sind Triathlet, laufen also Marathon, schwimmen und radeln
in einem Bewerb. Radeln oder laufen Sie von Dornbach ins Büro?
Holzinger:
Ich komme nicht mit dem Rad. Früher bin ich von hier nach Hause
gelaufen. Das habe ich aufgegeben, weil es nicht sehr effizient fürs
Training ist, schon wegen der roten Ampeln.
Standard: Und weil Sie immer stehen bleiben, wenn Sie Leute treffen.
Holzinger: Das nicht, weil wenn ich im Sportgewand unterwegs bin, vermeide ich den Kontakt zu den Leuten.
Standard: Ist der Sport Ihr Ausgleichsventil? Sie gelten als extrem fleißig, sachlich, korrekt, effizient...
Holzinger:
Ich war schon immer sehr sportlich; 1991 bekam ich den ärztlichen Rat,
regelmäßig Sport zu betreiben. 1992 lief ich gleich den Wien-Marathon:
vier Stunden 20.
Standard: Sie haben sich um eine Minute verschlechtert.
Holzinger: Ja, in sechzehn Jahren.
Standard: Sie kommen gerade aus Gmunden, wo Sie aufgewachsen sind. Ich habe viel recherchiert, zu Ihrer Herkunft aber wenig erfahren.
Holzinger:
Das überrascht mich nicht. Ich komme aus ganz einfachen, bescheidenen
Verhältnissen, bin der Erste mit Matura und der erste Akademiker der
Familie. Ich bin ein typischer sozialer Aufsteiger, verdanke das, was
ich bin, der politischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, der
Möglichkeit für Kinder aus sozial schwachen Schichten aufzusteigen.
Mein Lebensweg ist ein völlig anderer als der all meiner Vorgänger am
VfGH.
Standard: Studienkollegen beschreiben Sie als ehrgeizigen,
brillanten Studenten. Wollten Sie schon in der Sandkiste
Gerichtshof-Chef werden?
Holzinger: Nein, Förster. Und
mein ursprüngliches Studienziel war Germanistik und Geschichte, weil
ich mich für Literatur, Theater, Sprache begeistert habe. Ich habe
seitenweise Faust auswendig gelernt, die deutsche Klassik hat mich
fasziniert, und das ist nach wie vor so. Wenn Sie mich nach meinen
bleibendsten Eindrücken fragen: Peter Steins Faust I und II im Jahr
2001, das waren für mich zwei Tage, die ich nie vergessen werde. Oder
vor Jahren Giorgio Strehlers Shakespeare-Königsdramen-Collage "Spiel
der Mächtigen" in der Salzburger Felsenreitstunde, auch das hat mich
unwahrscheinlich fasziniert. Voriges Jahr habe ich mir in Leipzig
Wallenstein angeschaut, alle drei Teile an einem Tag; in Wien übrigens
auch. Mich beeindrucken bestimmte Formen moderner Inszenierung, etwa
die von Andrea Breth.
Standard: Hat Ihnen ihr Don Carlos an der Burg gefallen, der mit den Doggen?
Holzinger: Sehr. Ich mag auch Modernes, Thomas Bernhards Heldenplatz habe ich natürlich gesehen.
Standard: Die „Kronen Zeitung" hat bei der Uraufführung als
Protest gegen den "Nestbeschmutzer" das brennende Burgtheater auf der
Seite Eins gezeigt.
Holzinger: Ich habe Bernhards
Charakterisierung von Österreich sehr treffend gefunden. Ich lese aber
auch sehr gern, jetzt habe ich mich grade durch Thomas Manns Doktor
Faustus gequält . Diese Präzision in der Wiedergabe der Gedanken, der
Reichtum an Formulierungen... Und Mann hat den Zauberberg, die
Buddenbrooks, Joseph und seine Brüder geschrieben, er muss das jeweils
in einem Guss geschrieben haben, das wäre sich ja sonst mit der Zeit
gar nicht ausgegangen. Wie sehr ich mich dagegen oft plage, bis ein
Satz passt... Sehr quälende Kämpfe, die ich da mit mir austrage.
Standard: Wem sagen Sie das. Faust scheint Sie sehr zu beschäftigen.
Holzinger:
Ja, ich finde es gigantisch, wie Goethe sich sein ganzes Leben immer
wieder mit dem Thema beschäftigt hat und was er alles in Faust I und II
hineinverpackt hat...
Standard: ... die ganze Welt.
Holzinger: Ja. Und in all den Jahrhunderten hat sich an den wirklichen Problemen der Menschheit nichts geändert.
Standard: Sie haben also zuerst Germanstik und Geschichte studiert...
Holzinger:
Ja, und ein positives und ein negatives Erlebnis haben mich dann zum
Jusstudium gebracht: Ich geriet in eine Vorlesung des Rechtsphilosophen
René Marcic, der begeistert über die gesellschaftliche Bedeutung des
Rechts erzählt hat. Er hat mir den Eindruck vermittelt, es gäbe außer
dem Recht nichts Wichtiges auf der Welt. Da wollte ich dabei sein.
Standard: Gibt es Wichtigeres?
Holzinger: Ja, natürlich ist die Vorsorge dafür, dass die Menschen die sozialen und ökonomischen Bedingungen fürs Leben haben, von existenzieller Bedeutung. Aber das kann man nur sichern, wenn man rechtliche Voraussetzungen dafür schafft. Insofern hängen Politik, Ökonomie und Recht so eng zusammen, dass man das eine nicht vom andren trennen kann.
Standard: Das negative Erlebnis, das Sie zum Juristen werden ließ?
Holzinger:
Eine Vorlesung, in der stundenlang Biedermeier-Lyrik analysiert wurde.
Da dachte ich: Wenn du das dein Leben lang machen sollst, das hältst du
nicht aus.
Standard: Was reizt Sie so am Verfassungs- und Verwaltungsrecht?
Holzinger: Ich habe mich immer sehr für Politik interessiert, im Verfassungsrecht besteht die größte Nähe zwischen Politik und Recht.
Standard: Sie sind beim CV, warum? In der Familie lag das ja nicht.
Holzinger:
Nein, ich komme aus einer sehr konservativ-nationalen Familie, wurde
aber christlich erzogen. Zum CV kam ich gegen Studienende, über Freunde.
Standard: Sie gelten als rares Beispiel dafür, dass man auch
außerhalb des Proporzes Karriere machen kann. Sie wurden unter dem
roten Kanzler Sinowatz zum Chef des Verfassungsdienstes, die ÖVP wollte
Sie als Justizminister, fast wären Sie Rechnungshofchef geworden. Sie
selbst haben sich "politischer Abstinenz" verschrieben, gelten als
Beamter im josefinischen Sinn: staatstreu und loyal.
Holzinger:
In den Funktionen, die ich hatte, ist Distanz zur Politik unbedingt
notwendig. Ich halte dieses Beamtenethos für gut, auch wenn es nicht
mehr modern ist. Das Modell des politisch neutralen öffentlichen
Dienstes ist wertvoll.
Standard: In allen Bereichen? Müssen Postler beamtet sein?
Holzinger:
Nein, ich spreche von Beamten, die hoheitliche Entscheidungen treffen;
von Richtern, Finanzbeamten, Polizisten, Leuten, die Gesetze,
Verordnungen vorbereiten. In allen anderen Bereichen ist das nicht
notwendig. Ich habe die überzogene Beamtenkritik teilweise als
schmerzlich empfunden, weiß aber, dass es Effizienzdefizite gibt und
habe mich immer bemüht, private Effizienz im öffentlichen Dienst zu
übernehmen. Es ist auch viel vorangegegangen, gibt eine Reihe
hochqualifizierter Leute, die ganz anders agieren als in diesem
Klischee mit Beamtenforelle und Ärmelschonern.
Standard: Sie werden auch den VfGH ein wenig entstauben?
Holzinger: Es wird Reformprojekte zur internen Organisation geben.
Standard: Die Arbeit für den VfGH wird sich wegen der
Einrichtung eines Asylgerichtshofs verdoppeln, schon jetzt haben Sie
2000 bis 3000 Fälle im Jahr. Reicht es da, die Sessionssitzungstage von
80 auf 100 zu erhöhen und mehr Referenten abzustellen?
Holzinger: Wir
müssen unsere Produktion verdoppeln, bekommen mehr Mitarbeiter und
hoffen auf ein höheres Budget. Wir lehnen zwar rund 67 Prozent der
Beschwerden ab, aber auch das müssen wir in einem sechsköpfigen Gremium
tun. Was das den Steuerzahler kostet. Die Frage ist, ob es sinnvoll
ist, das alles von einem Höchstgericht erledigen zu lassen, das
eigentlich für die Erledigung wichtiger Rechtsfragen konzipiert ist.
Die Lösung liegt auf der Hand: Wir müssen endlich dezentrale
Verwaltungsgerichte erster Instanz und so einen Filter schaffen. Dann
kann auf der untersten Ebene einGericht entscheiden, ob eine
Beschwerde zulässig ist, die Höchstgerichte könnten nur noch in
wichtigen Fällen angerufen werden.
Standard: Sie haben im Juli Ihre erste Session hinter sich gebracht, fanden Sie "sehr anstrengend". Was ist das Anstrengende daran?
Holzinger:
Das sind drei Wochen, den ganzen Tag Beratung. Als Vorsitzender muss
ich jede Sekunde präsent sein, wir treffen 600, 700 Entscheidungen. Ich
leite ein Gremium von 13 Leuten, die schwierige Rechtsfragen zu lösen
haben. Da wird um Worte, einzelne Formulierungen gestritten, da wird
nichts abgenickt. Das sind sehr versierte, wortgewaltige, juristisch
unwahrscheinlich qualifizierte Menschen - was ja auch den Reiz
ausmacht. Ich hatte schon im Verfassungsdienst hochqualifizierte Leute,
Mitarbeiter wie den heutigen VwGH-Präsidenten Clemens Jabloner, den
Leiter des Präsidiums des Kanzleramts, Manfred Matzka,
Parlamentsdirektor Herbert Posch, jede Menge Uniprofessoren - eine
Supertruppe. Aber der Verfassungsgerichtshof ist die oberste Liga. Da
wird alles hinterfragt, keine Ungereimtheit in der Argumentation
verziehen, da könnte keiner versuchen, sich mit Plaudereien
drüberzuschwindeln. Das zu leiten, das ist anstrengend.
Standard: Ihre Marathonzeit wird sich verschlechtern.
Holzinger:
Ja, aber ich habe vor kurzem in Krems einen Triathlon gemacht, und war
nur beim Radfahren zehn Minuten langsamer als sonst. Und das lag am
Regen, ich wollte kein Risiko eingehen. Würde ich mich verletzen, würde
man sagen, "Was muss der Alte mit dem Radl durch die Gegend fahren?"
Standard: Zum VfGH zurück: So wie Sie ihn schildern, ist er unfehlbar.
Holzinger: Ist er nicht. Unfehlbar ist nur der Papst...
Standard: ...aber auch nur, wenn er ex cathedra spricht...
Holzinger: ...und man an die Dogmen glaubt.
Standard: Apropos, wie wichtig ist Ihnen Religion? Sie
organisieren die jährliche Thomas-Morus-Messe, Morus ist Schutzpatron
der Juristen.
Holzinger: ...für mich ist die Religion ein Orientierungspunkt, auch wenn ich der Kirche nicht unkritisch gegenüber stehe.
Standard: Der VfGH hat gerade entschieden, dass das
Bleiberecht zu reparieren ist, Asyl- und Fremdenrecht beschäftigen Sie
und den Gerichtshof sehr. Sind die Österreicher fremdenfeindlich?
Holzinger:
Das kann man ihnen nicht unterstellen. Menschen entwickeln Ängste, wenn
sich ihre Lebensumwelt verändert - und das tut sie, weil durch den von
uns herbei gesehnten Fall der Eisernen Vorhangs mehr Leute bei uns
leben, die nicht hier geboren wurden. Damit sind manche überfordert,
die Politik muss dieses Problem lösen. Wir können nicht die Vorteile
der Öffnung konsumieren und nur über die Nachteile reden.
Standard: Im Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt haben Sie
auch den EU-Beitritt vorbereitet. Was denken Sie, wenn Sie die Bilder
der in Lampedusa gestrandeten Flüchtlinge sehen?
Holzinger:
Dass wir in Europa Mechanismen für eine geordnete Zuwanderung
entwickeln müssen. Probleme wie Lampedusa sind eine Herausforderung für
den Kontinent, kein italienisches Problem. Ich bin optimistisch, dass
Europa das in Griff bekommt.
Standard: Noch ein paar
kurze Fragen. Stichwort zweisprachige Ortstafeln: Kärnten ignoriert die
VfGH-Erkenntnisse, Jörg Haider nennt Sie einen "Kärnten-Feind".
Holzinger:
Der VfGH richtet sich nach dem Staatsvertrag, und ich bin überzeugt
davon, dass am Ende der Rechtsstaat gewinnt. Und ich mag jedes
Bundesland.
Standard: Geht es Ihnen um Gerechtigkeit?
Holzinger: Ja, die Grundrechte sind der Versuch, Gerechtigkeit herzustellen. Wir bemühen uns darum... Ob uns das immer gelingt?
Standard: Ihr größter Fehler?
Holzinger: Ich bin zu ungeduldig, suche den Erfolg manchmal zu schnell. Andererseits, wenn man das nicht tut, kommt ja nichts raus.
Standard: Und Sie haben gesagt, die Deutschen gewinnen die EURO 2008.
Holzinger:
Ja, ich habe nicht gewusst, dass die Spanier so gut sind. Aber die
Deutschen sind zweite geworden, so weit lag ich also gar nicht daneben.
Standard: Sie sind Rapid-Fan. Sitzen Sie mit dem Wiener Rechtsphilopsophie-Professor Gerhard Luf auf der Westtribüne im Weststadion?
Holzinger: Nein, aber ich bleibe oft im Fernsehen bei Sportsendungen hängen. Das gehört zu meinen Lastern.
Standard: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?
Holzinger:
Eine Situation zu erreichen, in der man sagen kann: "Zum Augenblicke
möcht ich sagen: Verweile doch, du bist so schön." (Renate Graber, DER
STANDARD, Print-Ausgabe, 16./17.8.2008)