Zur Person

Lisbeth Jerich studierte Handelswissenschaften an der WU Wien und absolvierte das Doktoratstudium Betriebswirtschaft an der Karl-Franzens Universität Graz. Sie ist Lehrbeauftragte an der WU-Wien am Institut für Personalmanagement zum Thema "Praxis des Personalmanagements".

Außerdem ist sie Vortragende und Workshop Leiterin bei Waldzell und Buchautorin. Sie hat langjährige Erfahrung als Bereichsleiterin für Human Resource Management.

Foto: privat

Aktuelle Publikation

Jerich, Lisbeth
Burnout. Ausdruck der Entfremdung
Verlag: Leykam, Erscheinungstermin: 28. August 2008
ISBN: 978-3-7011-0126-9

Foto: Buchcover/Leykam Verlag

Lisbeth Jerich fordert im Gespräch mit derStandard.at/Karriere zu einem Perspektivenwechsel auf: Die Interpretation von Burnout als individuelles, stressbedingtes Problem der Schwäche bringe die Gefahr mit sich, dass Berufstätige Anzeichen und Symptome von Burnout vor sich und anderen verleugnen und keine Hilfe in Anspruch nehmen.

Anders als andere Burnout-Theoretiker, geht die Personalleiterin und Buchautorin davon aus, dass der Burnoutprozess durch "Depersonalisierung", also eine durch die Arbeitsbedingungen hervorgerufene Entfremdung von der Arbeit und letztlich von sich selbst, in Gang gesetzt wird. "Es ist vielmehr der Stress, der von dieser Entfremdung ausgeht, der zu Burnout führt und nicht Arbeitsstress per se", so Jerich. Für ihr Buch "Burnout. Ausdruck der Entfremdung" ist sie mit dem United Global Academy Wissenschaftspreis 2007 für besondere Forschungsergebnisse auf dem Gebiete der Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet worden.

derStandard.at: Viele haben Sich vor Ihnen mit Burnouttheorien beschäftigt - Was ist das Besondere an Ihrer Sichtweise?

Jerich: Die Burnoutforschung hat sich in der Tat zu einem etablierten, interdisziplinären Forschungsgebiet entwickelt und wird seit nunmehr 34 Jahren betrieben. Es ist jedoch ein Mangel an Wissen zu konstatieren. Er betrifft vor allem den defizitären Theoriestatus des Burnoutkonstrukts, die starke Vernachlässigung kontextspezifischer Zusammenhänge bei der Ursachensuche von Burnout und nicht zuletzt das unbeirrte Festhalten an einer überalterten operationalen Definition des Burnoutbegriffs. Mein Beitrag setzt genau hier an.

derStandard.at: Wie kam es dazu, dass Sie sich damit beschäftigt haben?

Jerich: Initialzündung, mich mit diesem Thema zu befassen, gab es keine. Es war vielmehr ein langjähriges Beobachten meines beruflichen, aber auch privaten Umfelds, das letztendlich den Ausschlag gegeben hat, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ein Thema, das immer offener wird, je länger man sich damit beschäftigt. So arbeite ich gerade an meinem neuen Buch mit dem Titel: "Von der Geld- zur Mußekultur. Eine Revolution auf leisen Sohlen."

derStandard.at: Was bedeutet Entfremdung von der Arbeit und warum entfremdet man sich?

Jerich: In meiner Arbeit wird davon ausgegangen, dass der Burnoutprozess durch die burnoutspezifische Dimension Depersonalisierung, also durch Entfremdung bei der Arbeit, in Gang gesetzt wird. Bei der Depersonalisation handelt sich um Abspaltungsvorgänge: Negative, belastende und unerträgliche Gefühle werden durch Abspaltung zu bewältigen versucht, die wahrgenommene Gefühllosigkeit wird in der Folge als Entfremdung erlebt.

Klassifiziert man Burnout als Depersonalisationsstörung, wäre Burnout als dissoziative Störung "DSM-IV-qualifiziert" und damit eine ernst zu nehmende psychische Störung. Es ist unbestritten, dass Burnout in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursacht. Ein weiteres "unter-den-Tisch-kehren" dieses Syndroms wäre somit ein Politikum, das den "Systemfehler" unserer Zeit zu vertuschen versucht - ungeachtet dessen, wie es Burnout-Betroffenen geht. In meinen Augen ist es höchste Zeit, ein Syndrom, welches derart explosionsartig zugenommen hat, wie das Burnoutsyndrom, (klinisch) ernst zu nehmen und ihm konsequenterweise einen "Krankheitsstatus" zu verleihen. Nur dann wären Unternehmen und Politiker dazu aufgefordert, auf das Wohl der Menschen näher einzugehen und ihre Politik dementsprechend zu adaptieren.

derStandard.at: Kann man sich auch von Kollegen oder Vorgesetzten entfremden?

Jerich: In der Wissenschaft ist man sich darüber einig, dass sich der weltwirtschaftliche Wandel mit all seinen Facetten vor allem auch im interpersonellen Bereich von Unternehmen bemerkbar gemacht macht. Persönliche Beziehungen spalten sich, Computer ersetzen das persönliche Gespräch, die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse erfordert ein ständiges "Auf-der-Lauer-sein" und dadurch die Vernachlässigung persönlicher Beziehungen.

Nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste" sitzen Menschen heute an ihren Schreibtischen mit der Angst im Nacken, jederzeit ihren Arbeitsplatz verlieren zu können. "Kollegen" werden zu "Konkurrenten" - für Gefühle ist kein Platz. In einem konfliktreichen und gespannten Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten liegt ein oft vernachlässigter Belastungsfaktor, der zu großem psychischen Stress bei der Arbeit führt.

Nährboden für die Entfremdung vom Mitmenschen am Arbeitsplatz sind oft Fehler und Defizite in der Arbeitsorganisation, Gestaltung der Arbeitsinhalte und -abläufe, oder im Führungsverhalten. Menschen sind heute mehr denn je einem erhöhtem Druck ausgesetzt: Restrukturierungen, Arbeitsplatzabbau, ungünstige Arbeitszeitregelungen, hoher Leistungsdruck. Diese Entwicklung entfremdeter interpersoneller „Beziehungen" findet im so genannten "Mobbing" seinen größten Ausdruck. „Mobbing" wird als die höchste Form der Entfremdung von den Mitmenschen angesehen und kann schließlich als eine der Hauptursachen für die Entstehung von Burnout angesehen werden.

derStandard.at: Welche Rolle spielt der Verlust von Idealen in der Arbeit?

Jerich: Den Verlust an Idealen sehe ich als Hauptursache für die Entstehung von Burnout. Bei der Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die Ursachen für die Entstehung von Burnout von damals mit jenen von heute übereinstimmen, kommt man zu dem Schluss, dass sich durch die Veränderung der Rahmenbedingungen auch die Ursachen für die Entstehung von Burnout verändert haben.

Paradoxerweise wird die Entstehung von Burnout im Postfordismus auf das Fehlen eines idealistischen Sinns hinter der Arbeit zurückgeführt, welcher jedoch vor rund 30 Jahren noch der Grund für die völlige Verausgabung von Menschen in ihrer Arbeit war. Waren es damals Menschen mit hohen Idealen, die ausbrannten, so sind es heute Menschen, denen es an Idealen fehlt.

derStandard.at: Kann eine Identifikation mit der Arbeit Burnout verhindern? Stichwort soziale oder kreative Berufe?

Jerich: Ja. In den kausalen Zusammenhangvorstellungen der Burnoutforschung werden hoch ausgeprägte Motivationen als wesentliche Ursachenfaktoren für nachfolgend (irgendwann) einsetzende chronische Erschöpfungen angesehen, während die Möglichkeit niedrig ausgeprägter Motivationen als wesentliche Ursachenfaktoren für zeitlich nachfolgend auftretende Erschöpfungszustände theoretisch wie empirisch nicht entsprechend auch mitberücksichtigt wird.

Doch was ist mit den Menschen, die genau diese Konzentration auf bestimmte Aufgaben aufweisen und gerade durch diese Konzentration in Ihrem Arbeitsfeld viel bewirken und sich dabei nicht dauerhaft erschöpfen, sondern immer wieder eine tiefe Befriedigung in der Auseinandersetzung mit ihren Idealen erzielen? Das Argument, Burnout grenze sich durch das Kriterium der anfänglich hohen Ideologie gegen Entfremdung ab, ist weder theoretisch noch empirisch stichhaltig und kann deshalb vernachlässigt werden.

derStandard.at: Wenn in Unternehmen schon Burnoutfälle bekannt sind - Was raten Sie Firmen in der Firmenkultur zu ändern?

Jerich: Führungskräfte müssen aufgeklärt genug sein, Ihre Mitarbeiter als „ganzen" Menschen wahrzunehmen und deren private Interessen als solche zu respektieren. Mitarbeiter wiederum müssen selbst der Wandel sein, den sie zu sehen wünschen. Langfristiger Erfolg lässt sich nur mit einer entsprechenden „work-life-balance" erzielen - niemals mit Arbeit allein. Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, wer gesund ist, wird langfristig erfolgreich sein.

Dazu ist Aufklärung und ein radikales Umdenken notwendig. Wir müssen ein gewisses Maß an Mußekultur leben, um die vorherrschende Geldkultur ertragen zu können - müssen uns mit uns versöhnen, in uns hineinhören und auf Signale achten. Warum soll es nicht möglich sein, berufliche Interessen zu fördern, ohne die persönlichen Freizeitinteressen auszublenden, Leistung zu fordern, ohne die Lust am Leben zu verdrängen, Fleiß zu erwarten, ohne die Freude am Leben zu vergessen? Lebensfreude kann kein Privileg der Freizeit, sondern muss auch in der Arbeit möglich sein. Noch aber ist die Verwirklichung von Werten wie Heiterkeit, Fröhlichkeit, Nachsicht, Rücksicht oder Ehrlichkeit wesentlich auf das Freizeitleben beschränkt.

derStandard.at:
Wie lassen sich Humanisierung und Gewinnmaximierung vereinbaren?

Jerich: Über Humanisierungsmaßnahmen des Arbeitslebens wird sehr kontrovers diskutiert. Viele Praktiker sehen in ihnen einen direkten Widerspruch zu Rationalisierungsmaßnahmen - anderen wiederum fehlt es an dem Glauben, dass die Produktivität durch eine humanere Gestaltung der Arbeit tatsächlich gesteigert werden könne. Jeder, der mit der Unternehmenspraxis ein wenig vertraut ist, weiß, dass Humanisierungsbestrebungen in den meisten Fällen nichts als leere Worte sind. Einer effizienten Zusammenarbeit stehen nicht nur Misstrauen, Unkenntnis des Managements und Konkurrenzangst der Experten entgegen, sondern auch erhöhte Kosten infolge des zusätzlichen Abstimmungsaufwands mit zukünftigen Anwendern und Beteiligten, sowie Qualifikationsmaßnahmen.

Es gibt jedoch viele Gründe, die die damit verbundenen zusätzlichen Kosten nicht nur rechtfertigen, sondern dringend erfordern. Mitarbeiter fordern interessante Arbeitsinhalte, mehr Informationen, Beteiligung, aber auch Möglichkeiten zur Qualifizierung. Wird an der Investition in das Humankapital eines Unternehmens gespart, werden dadurch wichtige Unternehmensziele vereitelt, wie z.B. die Bewältigung von Marktbedingungen, die Personaleinsatzflexibilität, die Nutzung technischer Systeme, sowie die Innovationsbereitschaft. Sämtliche Maßnahmen zur Humanisierung des Arbeitslebens werden jedoch fruchtlos bleiben, wenn nicht ein großes Umdenken in Unternehmen stattfindet. Veränderungen der Organisationsstruktur sind nur im Zusammenspiel mit einer veränderten Führungsphilosophie Erfolg versprechend.

derStandard.at: Ist jeder gleich stark burnoutgefährdet?

Jerich: Es ist unbestritten, dass Persönlichkeitsmerkmale bei der Entwicklung des Burnout-Syndroms mitunter auch eine Rolle spielen. Allerdings können diese Persönlichkeitscharakteristika nicht per se als Auslöser für den Burnoutprozess angesehen werden. Es wird daher postuliert, dass grundsätzlich jeder, je nach Lebens- und Arbeitsbedingungen, burnoutgefährdet ist.

Es ist immer ein Zusammenspiel multipler Faktoren, die den Burnoutprozess in Gang setzen, niemals reine Veranlagung. Mit meinen Darstellungen und Begründungen versuche ich dieses Vorurteil aus dem Weg räumen zu helfen. Die Interpretation von Burnout als individuelles Problem der Schwäche bringt die Gefahr mit sich, dass Berufstätige Anzeichen und Symptome von Burnout vor sich und anderen verleugnen und keine Hilfe in Anspruch nehmen.

derStandard.at: Welche Art von präventiven Maßnahmen empfehlen Sie Unternehmen?

Jerich: Bei der Auseinandersetzung mit Verhaltensweisen, die zu Burnout führen, müssen wir uns der tiefen Verletzung bewusst sein, die ihr zu Grunde liegt. Der Ausgangspunkt von Veränderung liegt daher zunächst bei den einzelnen Betroffenen. Es ist der Punkt, an dem sie nicht mehr so weitermachen können und daher nicht mehr wollen. Sie sehen dann, dass sie die Verantwortung für ihr Leben nicht länger abwälzen können, sondern diese selbst übernehmen müssen. Sie suchen wieder mit ihrem Selbst in Kontakt zu kommen, ihre innere und äußere Isolation zu durchbrechen, ihre Ehrlichkeit wieder zu gewinnen und sich selbst wieder zu trauen.

Allerdings ist das nur der erste Schritt. Betroffene müssen bereit werden, ihre bisherige Lebensweise in Frage und sich selbst beziehungsweise das eigene Wohl vor berufliche Erfolge zu stellen. Man muss wieder lernen Grenzen zu ziehen zwischen Arbeit und Freizeit, muss der bedingungslosen Unterwerfung der privaten Lebensführung unter das Diktat der Erwerbsarbeit ein Ende setzen. Gerade die fortschreitende Entgrenzung der Arbeitszeit trägt bei zur Verstärkung von Stress in der Gesellschaft.

Die Aufgabe von Unternehmen dabei ist es, wenigstens die Rahmenbedingungen für selbst organisierte Genesungsprozesse zu verbessern. Wie die bisherigen praktischen Erfahrungen auf betrieblicher Ebene zeigen, besteht hier bisher wenig Bereitschaft und auch von Seiten der Betriebs- und Personalräte ist das Interesse - ja sogar das Verständnis oft noch gering.

derStandard.at: Sie sind selbst Personalleiterin - Wie gehen Sie im beruflichen Alltag mit dem Thema Burnout um?

Jerich: Ich befolge meine eigenen Ratschläge sehr konsequent! (Marietta Türk, derStandard.at, 24.8.2008)