Böhlau Verlag

"Es war Sommer und ich war auf Urlaub", sagt Natalja Tomilina auf die Frage, wo sie in der Nacht zum 21. August 1968 gewesen sei. In dieser Nacht marschierten die Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei ein und beendeten abrupt einen Reformprozess der als "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" in die Geschichtsbücher einging.

Zu dieser Zeit habe sie in Moskau "für die Partei gearbeitet", erzählt Tomilina im Gespräch mit derStandard.at. Seit 1991 ist die Historikerin Direktorin des Russischen Staatsarchivs für Zeitgeschichte. Tomilina ist eine der HerausgeberInnen des gerade erschienenen Sammelbandes Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968.

Schlüsseldokumente

Für das internationale Wissenschafter-Team aus Europa und den USA öffnete Russland zum ersten Mal seine Archive aus der Sowjetzeit. "Alle Dokumente des Innen- und Außenministeriums und des Geheimdienstes gingen über die Partei, und sind im Archiv des Zentralkomitees der KPdSU vorhanden", erklärt Tomilina. Auch die Schlüsseldokumente zu den Entscheidungen der Sowjetunion im Jahr 1968 sind dort gelagert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das ZK-Archiv 1991 zum Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte umbenannt.

Frei zugänglich ist es allerdings nicht. Auch für das Forschungsprojekt zum Prager Frühling mussten die entsprechenden Dokumente zuerst einer Kommission vorgelegt werden, die über die Freigabe entschied. "Bei etwa 15 Prozent der Dokumente über den Prager Frühling entschied sich die Kommission gegen die Veröffentlichung", erzählt Tomilina. Aber sie fügt an, es sei nur eine Frage der Zeit, bis auch diese der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Entscheidungen der Sowjetunion

Ein Großteil der sowjetischen Dokumente wurde zum ersten Mal ausgewertet und die Ergebnisse in diesem Buch publiziert. Erstmals wird so der Prozess der Entscheidungsfindung auf sowjetischer Seite und auch die Reaktionen in der Bevölkerung und der anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks öffentlich.

Über die russische Reaktion auf den Einmarsch berichtet Tomilina, die Parteizeitungen hätten das Vorgehen der Sowjetunion verteidigt. Aber es hätte auch Widerstand gegeben. "Am Roten Platz haben Demonstranten dagegen protestiert." Die Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Die Demonstranten wurden verhaftet und kamen ins Gefängnis. Tomilina: "Sie haben damit rechnen müssen, verhaftet zu werden. Sie haben wissen müssen, was passiert." Die Bevölkerung habe den Einmarsch aber mehrheitlich unterstützt.

Heute sei die Bewertung zwiespältig. Mit der Öffnung der Archive sei aber der Wunsch verbunden, die weißen Flecken in der Geschichte zu schließen, und den Menschen zu erzählen, was passiert ist. Tomilina: "Als Historiker kann man kann nicht den Erinnerungen vertrauen, sondern muss an Dokumente glauben." (mka)