Doch die Opfer der ethnischen Säuberungen sind noch nicht gezählt.

*****

Zwei Buben stehen am Eingang zum Lager und feuern mit Spielzeuggewehren auf die Besucher. Es gibt Geschichten, die halbwegs gut enden werden, und solche, deren Ende man sich nicht ausmalen möchte. Die von Ani Berzenischwili wird bald enden, auch wenn ihrem Gesicht noch die Tage mit den Bombenangriffen abzulesen sind. Die Geschichte von der Flucht, die Zirad Tschalboradi aber erzählt, ist schlecht und wird nur schlechter werden.

Zwei Wochen ist der Krieg nun alt. Die Weltpolitik ist seither nicht mehr dieselbe, und Ani und Zirad sitzen am Rand ihrer Feldbetten, zwei stolze Frauen mit akkurat gezupften Augenbrauen, die eine aus der Stadt, die andere aus dem Dorf. "Ich habe fast eine Woche in einem Keller gelebt" , sagt Ani Berzenischwili, "und ich habe vier Menschen neben mir sterben sehen." Das war, als die Regierung im Zentrum der Stadt Gori Essen verteilte und eine russische Militärmaschine eine Bombe abwarf. Der Schock hat sie aus dem Gleichgewicht gebracht.

Acht große Zelte hat die georgische Regierung auf dem Gelände einer früheren russischen Militärbasis nahe dem Flughafen von Tiflis errichtet. Es ist wohl das Camp mit den besten Bedingungen in der Hauptstadt - klein, überschaubar, sauber. Flüchtlinge aus Gori, der Separatistenprovinz Südossetien und dem ehemals georgisch kontrollierten Teil Abchasiens sind hier, fast ausnahmslos Frauen mit ihren Kindern, die den Krieg nachspielen, weil die Tage im Lager lang sind und das Fernsehen ohnehin nichts anderes zeigt. Jüngere Männer sucht man hier vergeblich. Der von Zirad Tschalboradi zum Beispiel hält sich noch im Keller des Hauses verborgen. Zumindest war das noch bis vor drei Tagen so.

"Mein Haus ist klein" , sagt Zirad, "die großen im Dorf haben sie alle geplündert und angezündet." Einen Nachbarn, der ein Handy hat, konnte sie bisher anrufen. Der beruhigte sie: Ihrem Mann gehe es gut, er habe sich "unter dem Haus" versteckt vor den ossetischen Milizionären. Doch seit drei Tagen ist der Nachbar nicht erreichbar. Möglich, dass er das Handy nicht aufladen kann; möglich auch, dass Schlimmeres geschehen ist. Am Mittwoch berichtete die Regierung in Tiflis über neue Brände in den georgischen Dörfern der Separatistenprovinz. Auch Dzereva, Zirads Dorf, war darunter. Eine Bestätigung von unabhängiger Seite gibt es dafür wie so oft nicht.

Es sind die Tage der Rache und des Triumphs in Südossetien. Die georgischen Dörfer seien "eingeebnet" worden, verkündete der "Präsident" der Separatisten, Eduard Kokoiti, bevor ihn das russische Außenministerium korrigierte. Der Chef der Südosseten habe im Überschwang gesprochen, hieß es. Wie es wirklich in den Dörfern um Zchinwali, die kleine südossetische Hauptstadt, aussieht, erfahren internationale Helfer erst langsam. Am Donnerstag traf ein Team des Roten Kreuz in Zchinwali ein und fuhr auch in die Umgebung.

Bisher blieb die sogenannte "Konfliktzone" internationalen Helfern versperrt, nicht weil die russische Armee oder die südossetische Regierung keine Erlaubnis erteilt hätten, sondern weil niemand einen sicheren Zugang garantieren wollte. Nicht nach Zchinwali, nicht zu den georgischen Dörfern in der Provinz und auch nicht in die Umgebung von Gori. "Viele sind dort in die Wälder geflüchtet und schlafen unter den Bäumen" , sagt Ani Berzenischwili. Auf insgesamt 80.000 wird die Zahl der georgischen Flüchtlinge geschätzt. Wie viele in der Sepa-ratistenprovinz zurückgeblieben und umgekommen sind, ist unklar.

2000 Tote könnte der Artillerieangriff der georgischen Armee und die mit noch massiverem Einsatz erzwungene Rückeroberung Zchinwalis durch die russische Armee in den ersten Kriegstagen unter den Zivilisten - Südosseten wie Georgier - gefordert haben. Die Opfer der "ethnischen Säuberungen" sind noch lange nicht gezählt. Und dann bleibt noch die Frage der Rückkehr, der Weg zurück ins alte Leben.

Ani, die Frau aus Gori, wird ihre Wohnung in einem Block im Zentrum der Stadt, wohl wiederfinden. Auch den kleinen Lebensmittelladen, den sie hatte, auch wenn er geplündert wurde - das ist sie sich sicher. Für Zirad aber ist die Zukunft dunkel. Dass ihr Mann noch lebt, hofft sie. Dass sie beide wieder in ihrem Dorf wohnen können, mitten unter den Südosseten, glaubt niemand mehr. (Markus Bernath aus Tiflis/DER STANDARD, Printausgabe, 22.8.2008)