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Der bosnische Wallfahrtsort Medjugorje war laut Mart Bax Schauplatz des "kleinen Kriegs in der Herzegowina". Nun stellt sich heraus: Der Anthropologe hat eine Lügengeschichte verbreitet.

Foto: AP/Amel Emric

Am frühen Morgen des 27. Mai 1992 machte Ljerka Sivric im Hof ihres Onkels Djure eine schreckliche Entdeckung: Drei menschliche Leichen, mit den Füßen an ein Rohr gebunden und Hände hinter dem Rücken, mit dem Kopf nach unten in den zum Teil zerstörten Brunnen hängend. Die Gräueltat war einer der schrecklichen Höhepunkte in einer Fehde zwischen zwei Clans, die mindestens 140 von 3000 Dorfbewohnern das Leben kostete und weitere 600 in die Flucht schlug. Schauplatz des grausigen Geschehens war ausgerechnet der Wallfahrtsort Medjugorje, sonst als Ziel hunderttausender Pilger aus aller Welt bekannt.

Die Geschichte vom "kleinen Krieg in der Herzegowina" ist Balkan-Historikern heute gut vertraut. Sie erschien, packend erzählt, als Kapitel in einem Buch des Amsterdamer Professors für politische Anthropologie, Mart Bax, unter dem Titel Medjugorje: Religion, Politics, and Violence in Rural Bosnia. Mart Bax war ein angesehener Wissenschafter, der sich vor allem mit Marien-Wallfahrtsorten beschäftigt hatte. Das Buch beruhe auf "über zehn Jahren Feldforschung in der Region", so der Verlag der Freien Universität Amsterdam im Klappentext.

Im letzten Kriegsjahr 1995, als Bax' Buch erschien, hatte die europäische Öffentlichkeit es aufgegeben, sich mit einer der bosnischen Kriegsparteien zu identifizieren. Spätestens seit in Bosnien Kroaten gegen Muslime kämpften, suchten Beobachter die Gründe für das Geschehen nicht mehr in aktuellen politischen Entwicklungen. Nicht mehr um Jugoslawien ging es, sondern um den ewigen Balkan.

Das schmale, gut geschriebene Buch des Niederländers brachte den völkerkundlichen Ton in die Analyse des bosnischen Krieges. Es wurde viel zitiert und noch mehr als "Geheimtipp" und regionalhistorischer Appetithappen herumgereicht. Im Jahr 2000 legte Bax noch einmal nach und landete einen Aufsatz in der angesehenen Anthropologie-Zeitschrift Ethnos (Bd. 65, Heft 3, S. 317).

Mit sichtlichem Stolz auf seinen Erfolg holte er diesmal weit aus. Es gebe da eine "Tendenz" unter Wissenschaftern, formulierte Bax in seinem Abstract, "Krieg und ethnische Säuberungen als sorgfältig von oben orchestriert" zu interpretieren. In seiner Studie weise er nach, dass der Verlauf solcher Konflikte "weitgehend auf Vendettas zwischen Clans und lokale Fraktionskämpfe" zurückzuführen sei.

Die Münchner Balkan-Historikerin Marie-Janine Calic, die über die politische Geschichte des Bosnien-Krieges forscht, schüttelt über die Schlussfolgerung den Kopf. Sie betrachtet ethnologische Erklärungen für das Geschehen überhaupt mit Skepsis: "Der bosnische Krieg hätte unter ähnlichen Bedingungen, vor allem nach dem Zerfall des gemeinsamen Staates, überall auf der Welt stattfinden können."

Alles erfunden und erlogen

Jetzt stellt sich heraus: Den "kleinen Krieg von Medjugorje" hat es nie gegeben. Keine 600 Menschen sind geflohen und schon gar keine 140 umgekommen. Ljerka Sivric, die im Übrigen gar nicht so hieß, hat auch keine drei Leichen im Brunnen gesehen. Unklar ist nur, ob der Autor das Geschehen selbst erfunden hat oder die Lügengeschichte eines Informanten für bare Münze nahm - und vor allem, wie die wissenschaftliche Community über dreizehn Jahre dieser Geschichte aufsitzen konnte.

Dem Grazer Historiker Hannes Grandits, der tatsächlich Feldforschung in der Herzegowina betrieben hat, waren schon vor Jahren Zweifel gekommen. Er fragte herum. "Aber in Medjugorje wusste niemand etwas von einem kleinen Krieg", erzählt er. Auch die Topografie des Friedhofs, die Bax so liebevoll beschrieben hatte, fand Grandits nicht. "Ich habe lange überlegt, ob ich meine Erkenntnisse nicht publizieren sollte", erzählt der Forscher. "Aber damals war ich noch nicht promoviert, und mit dem Aufsatz hätte ich mir sicher meinen eigenen 'kleinen Krieg' eingehandelt."

Jetzt fragte auch die Zagreber Zeitung Jutarnji list noch einmal in Medjugorje nach. Wieder Fehlanzeige: Die letzte Fehde zwischen Medjugorje und dem Nachbardorf, erinnert sich der damalige Ortspfarrer, habe in den Fünfzigerjahren stattgefunden.

An Einspruch gegen das Bax'sche Buch hatte es nicht gemangelt. Gleich nach dessen Erscheinen hatten die Franziskaner von Medjugorje die Geschichte vom "kleinen Krieg" förmlich zurückgewiesen und als erfunden bezeichnet.

Die Presseerklärung wurde nicht zur Kenntnis genommen: Den herzegowinischen Patres, die als Extremisten galten, glaubte damals niemand etwas. In diesem Falle allerdings wäre leicht nachprüfbar gewesen, wer recht hatte. 140 getötete Menschen müssen irgendwo vermisst werden und irgendwo bleiben - selbst in Bosnien während des Krieges, und erst recht in einem Dorf. Aber der ethnologische Blickwinkel machte es offenbar überflüssig, etwa im Sterberegister nachzusehen oder Zeitzeugen - die ja wahrscheinlich alle zu diesem oder jenem "Clan" gehörten - eingehender zu befragen.

Der Zagreber Historiker Ivo Zanic schließlich listete etliche historische Fehler in Bax' Buch auf, womit wenigstens der Nachweis schwerer Schlamperei erbracht war. "Bax hat offenbar den politischen Hintergrund des Geschehens in Bosnien gar nicht verstanden", sagt Zanic heute. Seine kritische Rezension erschien 1998 auch auf Englisch, verpuffte aber. Ob der Historiker als Kroate wohl auch in Verdacht stand, mit einem der streitenden Clans verwandt zu sein?

Wie in Papua-Neuguinea

Über Bosnien, scheint es, kann man schreiben wie über einen Stammeskrieg im Papua-Neuguinea im frühen 19. Jahrhundert. Professor Mart Bax ist inzwischen emeritiert und lebt zurückgezogen in Südholland. Am Telefon mag er über das ferne Medjugorje nicht mehr sprechen. "Ich habe damit abgeschlossen", sagt er. (Norbert Mappes-Niediek/DER STANDARD, Printausgabe, 27.8.2008)