In eklatanten Fällen klinisch übergewichtiger Kinder - Schlagzeilen machte zuletzt ein Achtjähriger mit 90 Kilo - soll den Eltern das Sorgerecht entzogen werden. "Wenn Kinder unterernährt sind oder misshandelt werden, rufen ja auch alle nach dem Jugendamt", sagt David Rogers vom Kommunalen Zweckverband LGA. "Sollte das nicht auch für Fettsüchtige gelten?"
Anteil fettleibiger Jugendlicher verdreifacht
Die Initiative des Verbandes, der 400 Lokal- und Regionalverwaltungen in England und Wales vertritt, hat ein gewichtiges Problem in die Schlagzeilen gebracht. Der Anteil fettleibiger Jugendlicher hat sich in den vergangenen 25 Jahren verdreifacht, heißt es in einer Regierungsstudie. Bei den Elf- bis 15-Jährigen leiden schon heute 30 Prozent der Jungen und 45 Prozent der Mädchen an Übergewicht. Wenn der Trend anhält, so eine Warnung des Londoner Gesundheitsministeriums, werden in drei Jahren 19 Prozent der Jungen und 22 Prozent der Mädchen sogar klinisch übergewichtig sein. Adipositas ist dabei, Rauchen als häufigste Todesursache unter Kindern abzulösen.
Geringere Lebenserwartung
Die heranwachsende Generation hat, zum ersten Mal seit Jahrhunderten, eine geringere durchschnittliche Lebenserwartung als die heutige Elterngeneration. Weil auch deren Ess- und Lebensgewohnheiten falsch sind - 21 Prozent der Männer und 23,5 Prozent der Frauen gelten als fettsüchtig -, müssen die Kommunalverwaltungen viel Geld ausgeben. In vielen Fällen fettsüchtiger Kinder haben deren Eltern selbst erhebliches Übergewicht. Das macht Hilfe für die Youngsters schwierig, weil die Eltern gegenüber allen Initiativen defensiv reagieren. Unter vielen Experten stößt die Idee des Kommunalverbandes deshalb auf Zustimmung.
Eltern zur Rechenschaft ziehen
Eltern müssten zur Rechenschaft gezogen werden, glaubt Tam Fry von der Stiftung Child Growth Foundation: "Wer klinisches Übergewicht zulässt, begeht Kindesmisshandlung." Prue Leith, die Chefin des staatlichen Schul_ernährungsprogramms, stimmt zu: "Solche Eltern schädigen ihre Kinder genauso, wie wenn sie ihnen zu kleine Schuhe kaufen würden." Staatliches Eingreifen hält auch die Kinderpsychiaterin Alyson Hall für notwendig: "In manchen Fällen sind die Eltern das Problem."
Kinder zumindest zeitweise aus den Familien nehmen
Bisher halten sich diese Fälle noch in Grenzen. Die Bezirksregierungen im nordenglischen Cumbria und Nord-Tyneside bei Newcastle haben bereits Pläne in der Schublade, fettsüchtige Kinder mindestens zeitweise aus ihren Familien zu holen. Im Londoner Stadtteil Tower Hamlets spielte die Fettleibigkeit der Kinder in 20 Problemfällen eine Rolle.
Die Labour-Regierung hat bisher vor allem bei Schulspeisungen angesetzt und damit eine Initiative des TV-Kochs Jamie Oliver aufgegriffen. (Sebastian Borger aus London, DERSTANDARD, Printausgabe, 27.08.2008)