Ein neues Wort, ein neues Phänomen erobert von Spanien aus die Schweiz: "Botellón". Auf Spanisch heißt das "große Flasche", gemeint ist damit das gemeinsame Konsumieren alkoholischer Getränke in aller Öffentlichkeit. Kommenden Samstag sollen in Bern und Zürich kollektive Besäufnisse stattfinden.
Das Neue daran ist nicht das gemeinsame Trinken - dies ist auch anderswo Gang und Gäbe, vom Schützenfest über die Firmenfeier bis zum Sportvereinsabend gibt es reichlich Gelegenheit für ein Trinkgelage. Ganz abgesehen von den feuchtfröhlichen Fanscharen bei der EURO 08 im Juni. Neu ist aber, dass es für ein "Botellón" keinen eigentlichen Anlass braucht, außer dem, sich zu treffen und gemeinsam zu trinken. Und neu ist, dass die "Botellónes" von Jugendlichen selbst über Internetplattformen wie MySpace oder Facebook organisiert werden. Es steckt keine Organisation dahinter und es gibt keine greifbaren Verantwortlichen, was bei Behörden, Experten und Medien zu großer Ratlosigkeit im Umgang mit dem Phänomen geführt hat.
Selbstorganisierte Feste
"Warum regt die seltsame Idee überhaupt auf? Die Provokation liegt in der Sinnlosigkeit", kommentierte der Chefredakteur des Zürcher Tages-Anzeiger. Der Lausanner Soziologe Yves Pedrazzini bezeichnete das Phänomen in einem Interview als "eine neue Etappe der Selbstzerstörung". Die linke Wochenzeitung WOZ hingegen will antikapitalistische Beweggründe erkannt haben: "Die mit Gratiszeitungen und Handyindustrie sozialisierten Teenies schlagen die Waren- und Gewinnwelt nun mit ihren eigenen Waffen." Die Jungen weigerten sich, in EURO-Fanmeilen teures Bier zu konsumieren, an durchorganisierten Events teilzunehmen oder ihr Geld in Clubs zu vertrinken, und bauten sich ihre Feste wieder selber.
Die Stadt Bern will nun verhindern, dass sich hunderte Jugendliche am kommenden Samstag auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude zum "Botellón" treffen. Und auch der Bürgermeister der Stadt Zürich, Elmar Ledergerber, "missbilligt" den fürs kommende Wochenende geplanten "Botellón" am Ufer des Zürichsees. Er will jedoch den Anlass nicht verbieten, sondern mit Polizei und Sanitätern präsent sein.
Dieses Rezept der "kontrollierten Toleranz" hat sich in Genf bewährt: Nachdem der erste "Botellón" im Juli hässliche Urinlachen und Scherben hinterlassen hatte, ging der zweite am vergangenen Freitag gesittet über die Bühne. Die Behörden hatten mobile Toiletten aufgestellt, und Stadtpräsident Manuel Tornare kreuzte im Bastions-Park auf, um mit den trinklustigen Jugendlichen zu diskutieren. Wegen des regnerischen Wetters hatten sich nur 200 Jugendliche versammelt, beobachtet von dutzenden Journalisten und Kamerateams, um vor dem Denkmal des asketischen Reformators Jean Calvin gemeinsam zu bechern. (Klaus Bonanomi, Der Standard, Print-Ausgabe, 28.08.2008)