Foto: privat

STANDARD: Worin liegen die Ursachen für die starke Jenseits-Ausrichtung der altägyptischen Religion?

Jánosi: Die Ägypter des Altertums betrachteten ihr irdisches Dasein als vorübergehenden Aufenthalt, dem das eigentliche Leben im Jenseits erst folgen sollte. Bereits Herodot aus Halikarnassos, der Mitte des 5. Jhdts. v. Chr. das Land bereiste, war ob des Aufwandes, den die Ägypter für ihr Jenseits trieben, verstört. Es ist eine Frage des Standpunktes: Auf uns, die Tod und Jenseits in unserem täglichen Dasein völlig ausblenden, muss die altägyptische Kultur besonders jenseitsorientiert wirken. Doch darf man daraus nicht schließen, die Ägypter wären vom Tod besessen gewesen. Die kulturellen Leistungen der Bevölkerung des Nillandes zeugen von einer rationalen und durchaus lebensbejahenden Einstellung, die von hohem Ethos geprägt war.


STANDARD: Was machte die Stärke der Kultur aus, dass sie sich so lange halten konnte?

Jánosi: Das Faszinierende der ägyptischen Kultur ist ihre scheinbare Unveränderlichkeit. 3000 Jahre ägyptische Geschichte muss uns in einer schnelllebigen Zeit als Ewigkeit vorkommen. Bei näherem Hinsehen war natürlich auch das Alte Ägypten ständig inneren Veränderungen und Einflüssen von außen ausgesetzt. Die Stärke Ägyptens lag darin, innere und äußere Veränderungen zu absorbieren und in die Kultur und das Geschichtsbewusstsein aufzunehmen. Im Geschichtsdenken der Ägypter galt die Vorstellung, immer wieder an den Anbeginn der Zeit, dem Augenblick des "ersten Males", als sich die Erde aus der Urflut hob, zurückzukehren. Jeder neue Herrscher war verpflichtet, das Land so zu regieren, wie es die Vorväter taten. Diese beständige und Sicherheit garantierende Wiederholung war eng mit den Naturprinzipien des Niltales und seiner zyklisch wiederkehrenden Nilflut oder dem täglichen Auf- und Untergang der Sonne verbunden.


STANDARD: Worin besteht die Leistung der Reformen Echnatons, und was blieb von diesen trotz Tutanchamuns Rückrevolution bestehen?

Jánosi: Echnaton hatte innerhalb kürzester Zeit und gegen den Widerstand einer mächtigen und alten Tradition das religiöse Bild im Niltal nach seinen Vorstellungen umgeformt. Seine religiöse "Revolution", die das Prinzip des Lichts in Gestalt der Sonnenscheibe als einzige Gottheit erhob, hatte einen enormen Impakt auf die geistige, kulturelle und politische Entwicklung Ägyptens am Ende des 14. Jhdts. v. Chr. Die Restauration des Kindkönigs Tutanchamun - die Rückkehr zum alten Vielgötterglauben -, die vom Establishment herbeigeführt wurde, konnte die einmal freigesetzten geistigen Kräfte nicht stoppen. Am einfachsten war es auf politischer Ebene. Wie so oft nach religiösen Umwälzungen in der Geschichte übernahm das Militär in Gestalt der Ramessiden-Herrscher (19. und 20. Dynastie) die Führung. Auf religiöser Ebene ließ sich das Rad der Geschichte aber nicht zurückdrehen. Der unter Echnaton verfolgte Gott Amun gewann trotz Restauration seine alte Macht nur bedingt zurück. Ihm zur Seite wurden nun die Götter Re und Ptah sowie der Unterweltsgott Osiris gestellt. Letzterer eindeutig eine Reaktion auf die vollständige Negation eines Jenseits unter Echnaton. Gerade die Leugnung des Jenseits (Osiris-Religion) führte aber dazu, dass sich die Menschen noch intensiver mit ihrem Dasein und den Grundfragen des Lebens auseinandersetzten. In den Jenseitsbüchern der Ramessidenzeit, zum Beispiel dem "Höhlenbuch" und dem "Buch von der Erde", dominieren das Licht in der Gestalt der Sonnenscheibe und die Götterwelt, denen der Tote nun entgegentritt. Die regenerierende Nachtfahrt der Sonne durch die Unterwelt, an dessen Lauf der Tote Anteil zu nehmen wünschte, wurde zum Symbol der Auferstehung.

Auf praktischer Ebene brachte das sogenannten "Neuägyptisch", das als Umgangssprache unter Echnaton zur Schriftsprache erhoben wurde (bis dahin hatte man sich des veralteten "Mittelägyptisch" bedient), eine überwältigende Blüte an literarischen Werken wie Erzählungen und Liebeslyrik hervor.


STANDARD: Welche Einflüsse haben altägyptische Jenseitsvorstellungen und philosophische Ansätze für nachfolgende Kulturen?

Jánosi: Das Fortwirken der ägyptischen Kultur in die Antike und darüber hinaus in vielfältigen verästelten Erscheinungsformen bis auf den heutigen Tag ist unbestritten, jedoch noch keineswegs vollständig erfasst. Echnatons Eingottglaube wird zwar häufig als Vorläufer des jüdischen Monotheismus genannt, doch sind die Unterschiede zwischen beiden Religionen und der zeitliche Abstand zwischen der Amarnazeit und der späteren schriftlichen Fixierung des alttestamentlichen Monotheismus zu groß, um eine direkte Einflussnahme zu stützen. Dennoch kann man beim Lesen des 104. Psalmes des Alten Testaments sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor dieser großartigen Komposition Echnatons berühmten Sonnengesang kannte. (Michael Vosatka/DER STANDARD, Printausgabe, 28.8.2008)