Timothy Garton Ash: "Rhetorik genügt nicht."

Foto: Fischer

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Delegierter aus Mississippi unter dem Eindruck von Obamas Antrittsrede.

Foto: Reuters

Wenn wir prickelnd erfrischt wie ein hawaiianischer Surfer aus der Woge der großartigen Rhetorik Obamas auftauchen, sollten wir uns den legendären König Knut in Erinnerung rufen. Am Tag als Obama Anfang Juni den Vorwahlkampf endgültig gewonnen hatte, verkündete er: „Noch Generationen danach werden wir uns daran zurückerinnern können" (diejenigen von uns, die das Glück haben, Generationen danach noch am Leben zu sein) „und unseren Kindern erzählen" (die dann wahrscheinlich auf Krücken daherkommen), dass „das der Augenblick war, von dem an der Anstieg des Meeresspiegels sich verlangsamte und der Planet zu gesunden begann". Damit markierte er olympischen Rekord in der Disziplin der Übertreibung, der selbst in seiner Antrittsrede nicht mehr zu überbieten war. Was tat dagegen König Knut im 11. Jahrhundert? - Er ließ sich auf seinem Thron ans Meeresufer tragen, um der Flut Einhalt zu gebieten - und hat sich dabei nasse Füße geholt. Der Legende nach tat er dies in der Absicht, seinen Anhängern die Grenzen seiner Macht zu demonstrieren. Aber Knut kandidierte ja nicht für das Präsidentenamt ...

In den kommenden zehn Wochen muss Obama alle möglichen Aussagen machen, um Stimmen zu gewinnen, ohne sich dabei aber allzu sehr festzulegen. Darin ist er ja brillant, nachgerade ein Genie der inspirierenden Unbestimmtheit. Doch der Tag wird kommen, an dem man die Einlösung seiner Worte fordert. Ich nehme an, dass Obama sich auch dessen bewusst ist - oder es zumindest ahnt. Seine Bücher und seine detaillierten politischen Konzepte weisen ihn als jemanden aus, der ein nuanciertes Verständnis der Komplexität der Welt besitzt. Wir könnten also darauf vertrauen, dass er nicht den Fehler begeht, seine Rhetorik mit der Wirklichkeit zu verwechseln - sollten uns aber auch nicht darauf verlassen. Sein frisch erkorener Vize Joe Biden pries den Messias der Demokraten als einen "klarsichtigen Pragmatiker" und sieht in einem Präsidenten Obama die Chance, „nicht nur Amerika zu verändern, sondern die Welt." Verblüffenderweise glaubt man das in vielen Teilen der Welt ebenfalls.

Wahr ist: Mit viel Glück und dem massiven Einsatz von Freiwilligen und Jungwählern kann Obama Präsident werden und alle Hürden des Wahlgangs meistern: dass er schwarz ist, unerfahren, links, intellektuell - und wohlwollend von den Clintons „unterstützt". Allein schon die Tatsache, dass jemand wie er gewählt wird, würde sowohl Amerika verändern als auch die Sicht auf Amerika. Die Welt zu ändern ist eine andere Geschichte.
Rührseligkeit - „Schmalz" - ist ein Hauptbestandteil der amerikanischen Politik, und es gibt kein üppigeres „Schmalzfest" als den Parteitag der Demokraten. Was aber seine Frau Michelle am Montag in einer ur-schmalzigen Rede ansprach, enthält ein berührendes Körnchen Wahrheit: Dass „ein Mädchen aus dem Süden von Chicago und der Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus Hawaii" es so weit bringen konnten, steht für all das, was an den Vereinigten Staaten gut und hoffnungsvoll ist. Und Nach der West Side Story braucht eine Welt, die flächendeckend von amerikanischer Pop-Kultur überzogen ist, auch so etwas wie eine South Side Story.

Tatsächlich sind es ja zwei Geschichten - ihre und seine - die über ihre beiden Töchter Malia und Sasha miteinander verwoben sind. Wenn Amerikaner „Rasse" sagen, bedeutet das weit mehr, als das, was wir in Europa darunter verstehen. Im Begriff „Rasse" verbindet sich die Altlast der Geschichte der Sklaverei mit der immer noch erschreckend gegenwärtigen Realität der Rassentrennung. Obama hat seine Nominierung am Abend des 45. Jahrestags von Martin Luther Kings „I have a dream"-Rede angenommen. Noch vor 45 Jahren war eine grundlegende Gleichstellung der Bürger nur ein Traum. Geschichte Nummer eins handelt also davon, wie in Gestalt seiner nächsten Familienangehörigen Nachfahren von Sklaven das Weiße Haus erobern. Nach den Ministern Colin Powell und Condoleeza Rice fällt hier eine letzte Barriere. Geschichte Nummer zwei ist seine eigene: die des Sprösslings eines vielgereisten Vaters aus Kenia und einer weißen amerikanischen Mutter in einem interkulturellem Milieu. Ein Kind unserer zunehmend vermischten Welt, das nun den Anspruch erhebt, ihr mächtigster Mann zu werden.

Schwindende Macht

Der mächtigste - aber im Vergleich weniger mächtig als all seine Vorgänger seit 1945. Denn auch das macht die Obama-Bewegung aus: Dass die relative Macht des Präsidenten der USA geschwunden ist, dass sie im Schwinden begriffen ist und weiterhin schwinden wird. Schauen Sie sich nur einmal um, was außerhalb des amerikanischen Wahl-Getümmels alles geschehen ist. In Georgien hat Russland Washington die lange Nase gedreht und die Sprache des Kalten Krieges wieder salonfähig gemacht. In Afghanistan und Pakistan werden die islamischen Extremisten - als Ergebnis der wilden Entenjagd von George Bush im Irak - stärker statt schwächer. Bei den Olympischen Spielen in Peking hat China seinen friedvollen Wiederauftritt als Weltmacht auf spektakuläre Weise orchestriert. Diese Massen von Akrobaten, Trommlern und Tänzern im Vogelnest-Stadion, die Hollywood mit Hollywood zum Quadrat übertrumpften, haben eine machtvollere Botschaft vermittelt als irgendwelche russischen Panzer. Eine Botschaft, die auch in der Welt angekommen ist. Noch vor den Olympischen Spielen hat das Pew-Global-Attitude-Projekt bemerkenswerte Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, die in 24 Ländern Antworten auf die Frage erhob, ob China die Vereinigten Staaten als führende Supermacht überholen wird oder bereits überholt hat.

Wenige Befragte waren der Ansicht, dass China bereits die Führung innehat, aber rund die Hälfte der Franzosen, Deutschen, Briten, Spanier und Australier - ganz zu schweigen von den Chinesen selbst - gaben an, dass das künftig so sein wird. Besonders erstaunlich ist, dass auch einer von drei Amerikanern so denkt. Und in der Außenpolitik wie auf den Finanzmärkten macht die Wahrnehmung einen Großteil der Wirklichkeit aus. Mittlerweile ist der Welthandels-Gipfel gescheitert, da die entwickelten Ländern mit den Entwicklungsländern nicht zu einer Einigung kommen konnten. Wir befinden uns weit entfernt von den Sollvorgaben der „Millennium Entwicklungsziele" der UN, den Armen und Kranken der Welt zu helfen. Schritte zur Reduzierung der Luftverschmutzung - vor allen in den rasch wachsenden Märkten Asiens - wurden keine unternommen. Die Eiskappen an den Polen schmelzen weiter. Zu wenig wurde getan, um das Ansteigen des Meeresspiegels aufzuhalten. Ungewiss ist, ob selbst ein radikales Umdenken in der amerikanischen Politik daran etwas ändern könnte. Michelle Obama sprach eloquent über den brennenden Wunsch ihres Mannes, die „Welt wie sie ist" umzukrempeln zu einer „Welt wie sie sein soll". Aber die Kapazität Washingtons, das zu bewirken, ist heute viel geringer als sie es in den 1940er war oder auch in den 90ern, als Bill Clinton das Glück hatte, im Gleichklang mit der Geschichte zu marschieren.

Ungebrochene Stärke

Auch die inneren Stärken der USA sind heute längst nicht mehr das, was sie einmal waren. In der fortwährenden Kredit-Krise des Turbokapitalismus stehen Banken, die einmal das Flaggschiff Amerikas dargestellt haben, um Hilfe bei den mächtigen Funds des Mittleren und Fernen Ostens an. Der amerikanische Immobilienmarkt schlingert am Rande des Zusammenbruchs. Jobs sind rar. Amerikaner der Mittelschicht fallen aus dem Gesundheitssystem heraus und sind von der Verarmung bedroht. Während hunderte Milliarden Dollar im Irak und für die Terminator-IV-Ausstattung der mächtigsten Militärmacht, die die Welt je erlebt hat, verschleudert werden, kann jeder, der einige Zeit in den Vereinigten Staaten verbringt, zusehen, wie die zivile Infrastruktur abbröckelt. Das ist kein Land, das es sich leisten kann, "jeden Preis zu bezahlen, jede Last zu tragen" - um an die großartigen Worte zu erinnern, mit denen einst der Bruder des schwerkranken Senators Edward Kennedy, John, die Welt begeisterte.

Amerika hat noch immer außergewöhnliche Stärken. Dazu gehört vor allem seine Anziehungskraft für die aufgewecktesten, tatkräftigsten und geschäftstüchtigen Männer und Frauen aus aller Welt, denen es die Freiheit und Möglichkeit einräumt, ihre Talente wirkungsvoll zu entfalten. Menschen wie Barack Obama zum Beispiel. Als Person verkörpert Obama die anhaltende Stärke der Vereinigten Staaten. Als Präsident wird er aber gezwungen sein, ihrer zunehmenden Schwäche ins Auge zu sehen. (Timothy Garton-Ash*/Übersetzung: Elisabeth Loibl, DER STANDARD, Printausgabe, 30.8.2008)