"Leben heißt, sich minderwertig fühlen." Der individualpsychologische Analytiker Bernd Rieken hält es mit Alfred Adler: Denn mangelnder Selbstwert ist ein Teil jedes Menschen.

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MedStandard-Serie über die Wege der Psychotherapie - Letzter Teil: Die Individualpsychologie

STANDARD: Was unterscheidet Individualpsychologie von Psychoanalyse?


Rieken: Die Freud'sche Psychoanalyse verhält sich zu der von Adler gegründeten Individualpsychologie in etwa so wie Deutschland zu Österreich. Die Psychoanalyse ist deutsch: präzise, ordentlich und fast pedantisch in der Ergründung des Unbewussten. Die Individualpsychologie ist weniger präzise und sozusagen etwas gemütlicher. Wir fragen zwar so wie die Psychoanalyse, woher Probleme kommen, und ergründen das Unbewusste. Wir stellen aber auch die Frage nach dem Wohin, also danach, was man unbewusst damit erreichen will. Das macht die Psychoanalyse nicht.


STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?


Rieken: Die Depression ist immer ein Konflikt zwischen Es und Über-Ich. Ihre Ursachen liegen in der Kindheit. Die Zielursache, also die Frage nach dem Wohin und Wozu, kann sein, dass Depressive ihre Kräfte lahmlegen, um nichts falsch zu machen. Sie haben oft ein hohes aggressives Potenzial, spüren das unbewusst und halten ruhig. Denn wer nichts macht, kann auch nichts falsch machen. So kann das das Lahmlegen von Kräften Ziel einer Depression sein.


STANDARD: Mit welchen Methoden wird gearbeitet?


Rieken: Wir sind eine tiefenpsychologische Richtung und glauben, dass die Kindheit eine ganz wesentliche Rolle in der Entwicklung spielt. Um es mit Hei-mito von Doderer zu sagen: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider wechseln, wie er will." Die Couch, freie Assoziationen und Traumdeutung sind Methoden zur Ergründung des Unbewussten. Wir betrachten Menschen aber in einem umfassenderen Kontext.
Standard: Inwiefern?


Rieken: Wir analysieren den Menschen, uns ist aber der Blick aufs Ganze, auf den Lebensstil wichtig. Er zeigt sich im Detail, und im Detail zeigt sich der Lebensstil. Wenn ein Klient zu einem Erstgespräch kommt, ein Stockwerk zu früh aussteigt, dann zu Fuß kommt und den Sessel ganz nahe an den des Therapeuten heranrückt, lässt sich in diesen unbewussten Verhaltensweisen eventuell ein Konflikt zwischen Nähe und Distanz ablesen.


STANDARD: Minderwertigkeitsgefühl ist ein zentraler Begriff.


Rieken: Genau. Adler sagt: „Leben heißt, sich minderwertig fühlen." Und jedes Kind, das auf die Welt kommt, erlebt es in seinen ersten Jahren. Es ist also grundlegend und der fundamentale Antrieb, sich Ziele zu setzen, groß, stark und gleichwertig zu werden. Erziehbarkeit und der Bezug zur Gemeinschaft spielen dabei eine große Rolle. Indem man geliebt und geschätzt wird, lassen sich Minderwertigkeitsgefühle kompensieren. In Schlagworten formuliert ist der Zusammenhang so: Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Geltungsstreben. Der mangelnde Selbstwert wird kompensiert durch das Streben nach Anerkennung und nach sozialer Gleichwertigkeit.


STANDARD: Wie sieht Adler Schuldgefühle?


Rieken: Jeder hat Schuldgefühle. Schuld sein heißt Ursache sein. Ursache sein heißt mächtig sein. Vermeidung - wie etwa nicht zu einer Prüfung anzutreten - ist dem Ausweichen von Minderwertigkeitsgefühlen oft dienlich, so muss man Versagen nicht erleben. Die Leitlinie jedes Menschen ist es, den Selbstwert zu schützen, um nicht gedemütigt zu werden.


STANDARD: Was leistet eine individualpsychologische Therapie?

Rieken: Sie steigert die Lebensqualität, denn wer die Ursachen für Probleme begreift, lernt mit seinen Schwächen und Ängsten besser umzugehen. Über die Beziehung zum_Analytiker lassen sich Defizite ausgleichen. Unser Menschenbild ist im Vergleich zur Verhaltenstherapie oder den Systemikern eher skeptizistisch. Aber wir glauben an eine gewisse Beeinflussbarkeit. Daher spielt für uns auch die Ermutigung von Patienten in der Therapie eine Rolle, Freudianer lehnen sie eher ab. (Karin Pollack, MEDSTANDARD, Printausgabe, 01.09.2008)