In einem Europa der 27 ohne Binnengrenzen ist die Migration längst zu einem länder- und ressortübergreifenden Problem geworden. Die Steuerung und die Begrenzung der Zuwanderung unterscheiden sich von Staat zu Staat, wobei der Umgang mit "dem Fremden" von den oft weit auseinanderklaffenden Traditionen und politischen Kulturen, aber auch von der Stärke des Migrationsdrucks und der innenpolitischen Lage abhängt. Es geht auch um Grenzsicherung, Rückführung von "Illegalen", den Schutz der heimischen Arbeitsmärkte und natürlich auch um die Förderung von Einwanderung aus ökonomischen und demografischen Gründen.
Die Wanderung kann längst nicht mehr national kontrolliert werden. Es gibt zwar verschiedene Konzepte in Brüssel, aber keine koordinierte europäische Migrationspolitik. Laut Eurostat-Daten zählt man jährlich an den 1792 offiziellen EU-Grenzposten 300 Millionen Grenzüberschreitungen Richtung EU. Davon entfallen 160 Millionen auf EU-Bürger/innen, 60 Millionen auf Drittstaatsangehörige ohne Visumpflicht und 80 Millionen auf Drittstaatsangehörige mit Visumpflicht.
Kein Mitgliedsstaat kann kontrollierbare Daten für die illegale Migration vorlegen. Die EU-Kommission schätzt, dass sich allein sieben bis acht Millionen überwiegend afrikanische Einwanderer irregulär in der EU aufhalten. Auf den Kanarischen Inseln, an den Küsten Süditaliens, Griechenlands und Zyperns landeten heuer bereits zehntausende Bootsflüchtlinge.
Anders liegen die Dinge bei der Migration aus Ostmitteleuropa. Rund eine Million Menschen gingen aus den acht neuen mittel- und osteuropäischen EU Staaten seit 2004 nach Großbritannien, das seinen Arbeitsmarkt nicht abschottete. Zwei Drittel stammten aus Polen. Inzwischen kehrte schätzungsweise die Hälfte wegen des Wirtschaftsaufschwunges in Polen und der Verschlechterung des Pfundkurses in ihre Heimat zurück. Selbst in der liberalen englischen Gesellschaft wurde aber die Frage des Drucks durch die niedrigen Löhne auf den Arbeitsmarkt thematisiert. So verlangte Premier Gordon Brown im Vorjahr "britische Stellen für britische Arbeiter".
Die meisten EU-Staaten (auch Österreich!) brauchen Zuwanderung, vor allem junge, gutausgebildete und mobile Arbeitskräfte aus Ostmitteleuropa. Angesichts der demografischen Entwicklung wirkt sich die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit mittel- und langfristig negativ auf die Wirtschaft der Gastländer aus. Die Rechtspopulisten und oft auch die Gewerkschaften sehen nur die Gefahren und nicht das Potenzial einer klug regulierten Zuwanderung. Jeder vernünftige Beobachter billigt "Nulltoleranz" gegenüber straffällig gewordenen Asylwerbern oder illegal ins Land gelangten Einwanderern - vorausgesetzt freilich, dass die Verfahren im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention abgewickelt werden.
In einem Land wie Österreich, wo 1,3 Millionen Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund haben, ist aber die Stimmungsmache, offen oder kaschiert, gegenüber Ausländern - ob integrierten Zuwanderern oder unbescholtenen Asylwerbern - auch zur Zeit eines Wahlkampfes unerträglich und verdammenswert. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 4.9.2008)