ballesterer fm-Chefredakteur Reinhard Krennhuber: "Von Seiten der Ultras hatten wir in keinem Moment etwas zu befürchten. Sie haben auch die Ordnungskräfte nie attackiert, weder auf den Bahnhöfen, noch im Stadion, weil sie wussten, was auf dem Spiel stand."

Foto: Privat

"Insgesamt wurden wir nach dem Match über vier Stunden im Stadion festgehalten, ohne die Möglichkeiten Essen oder Getränke zu kaufen. Die Versorgung mit Trinkwasser blieb ein leeres Versprechen."

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Medienberichte über eine neue Gewaltwelle haben den Serie-A-Auftakt in Italien überschattet. Laut Agentur-Meldungen sollen 1.500 Ultras des Erstligisten SSC Napoli am Sonntag den Bahnhof in Neapel verwüstet haben. Sie sollen einen Zug gestürmt und 300 Passagiere gezwungen haben, auszusteigen. Weiters sollen sie Ticket-Kontrolleure verletzt, Waggons zerstört und geplündert haben. Bei der Ankunft im römischen Bahnhof Termini sollen die Ultras trotz Polizeieskorte Tränengas und Knallkörper eingesetzt haben. Die italienischen Staatsbahnen sprechen von Schäden im Wert von einer halben Million Euro.
Reinhard Krennhuber, Chefredakteur des Fußballmagazins ballesterer fm, hat die Ultras gemeinsam mit seinem Kollegen Jakob Rosenberg auf ihrer Auswärtsfahrt von Neapel nach Rom begleitet und nimmt im derStandard.at-Interview Stellung zu den Vorfällen. ballesterer fm wird sich in seiner Oktober-Ausgabe mit der Krise des italienischen Fußballs beschäftigen, der Schwerpunkt wird auch eine ausführliche Reportage zum Spiel Roma - Napoli enthalten. Die Ausgabe erscheint am 7. Oktober.

derStandard.at: Sie waren Augenzeuge der Vorfälle auf dem Bahnhof in Neapel und Passagier im Zug nach Rom. Was genau ist passiert?

Krennhuber: Davon, dass die Ultras die anderen Passagiere zum Aussteigen gezwungen hätten, kann keine Rede sein. Von Attacken auf Schaffner haben wir auch nichts mitbekommen. Der Zug hätte um 9.24 Uhr abfahren sollen. Kurz nach 11 Uhr ist ein Trenitalia-Mitarbeiter durchgegangen und hat allen Nicht-Fußballfans geraten, andere Züge zu nehmen, was die meisten dann auch getan haben. Abgefahren ist der völlig überfüllte Zug um 12.30 Uhr. Bei unserer Ankunft am Römer Bahnhof war das Spiel bereits im Gang, betreten haben wir das Olimpico erst in der 52. Minute. Eine Schande, wenn man bedenkt, dass der überwältigende Teil der Ultras reguläre Karten für den Zug gekauft und 28 Euro für das Matchticket ausgegeben hatte. Einzelne Zerstörungen z.B. von Toiletten habe ich mitbekommen, die Schäden am Zug können aber nur einen Bruchteil der von Trenitalia veröffentlichten Summe ausmachen. Was man aus einem Zug plündern soll, entzieht sich meiner Vorstellungskraft, ebenso wie Meldungen von Tränengas werfenden Ultras.

derStandard.at: Verspürten Sie in manchen Situationen Angst, dass Ihnen etwas passieren könnte?

Krennhuber: Von Seiten der Ultras hatten wir in keinem Moment etwas zu befürchten. Sie haben auch die Ordnungskräfte nie attackiert, weder auf den Bahnhöfen, noch im Stadion, weil sie wussten, was auf dem Spiel stand. Der einzig wirklich brenzlige Moment war, als Polizisten vor der Abfahrt aus dem Olimpico in Busse eindrangen und auf einzelne Fahrgäste einprügelten. Vorgeschobener Grund dafür war, dass die Fans die Abfahrt verzögert hätten, weil sie sich im Türbereich aufhielten. Diese Aktionen waren auch von abfälligen Aussagen der Beamten zur neapolitanischen Herkunft der Fans begleitet. Dass die Busse dann erst eineinhalb Stunden später losgefahren sind, macht die Szenen noch absurder. Insgesamt wurden wir nach dem Match über vier Stunden im Stadion festgehalten, ohne die Möglichkeiten Essen oder Getränke zu kaufen. Die Versorgung mit Trinkwasser blieb ein leeres Versprechen.

derStandard.at: Das italienische Innenministerium erwägt ein komplettes Reiseverbot für Napoli-Tifosi zu verhängen. Weiters drohen auch Spiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Geldstrafen. Finden Sie die Maßnahmen zielführend?

Krennhuber: Nein, das Reiseverbot und die möglichen Platzsperren halte ich für stark überzogen. Die große Mehrheit der Fans hat sich während der Auswärtsfahrt nichts zu Schulden kommen lassen. Aussagen, wonach die ganze Aktion von Fanseite her geplant war oder dass sogar die Camorra darin verstrickt sei, sind für mich völlig aus der Luft gegriffen. Im Gegenteil: Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass die Verspätungen und andere Schikanen bewusst geplant wurden, um eine Reaktion zu provozieren, die den Behörden den Vorwand für die jetzt ergriffenen Maßnahmen gibt.

derStandard.at: Italiens Polizeichef Antonio Manganelli hebt die positiven Resultate der Regierung im Kampf gegen die Gewalt im Fußball hervor. Seit dem Tod des Polizisten Filippo Raciti im Februar 2007 in Catania soll es weniger Krawalle geben. Die Sicherheitsstandards der Stadien sollen erhöht worden sein. "Der Trend hat sich geändert, wir sehen, dass auch immer mehr Familien wieder die Stadien besuchen", sagte Manganelli. Entspricht das der Realität oder sind dies nur beschönigende Worte?

Krennhuber: Die Sicherheitsstandards wurden teilweise sicherlich verbessert, das betrifft aber fast ausschließlich zusätzliche Zugangsbeschränkungen wie Drehkreuze. Am großteils desolaten Zustand der italienischen Stadien hat sich nichts geändert. Davon abgesehen setzt die Regierung ausschließlich auf Repression, für ein Fanbetreuungskonzept ist sie nicht bereit, Geld auszugeben. Die Aussage Manganellis finde ich zynisch, wenn man bedenkt, dass ein Polizist im November 2007 den Lazio-Fan Gabriele Sandri erschossen hat. Davon, dass wieder mehr Familien zum Fußball gehen, hätte ich nichts bemerkt. In Rom habe ich im Auswärtssektor unter 3.600 Personen zwei Leute über 50 gesehen und fünf oder sechs Frauen, was mich bei der teilweise unmenschlichen Behandlung der Fans auch nicht weiter verwundert.

derStandard.at: Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus Ihren Erlebnissen vom vergangenen Wochenende?

Krennhuber: Ich werde Presseberichten über Ausschreitungen in Italien in Zukunft noch weniger Glauben schenken, als ich es bisher getan habe. Es herrscht ein extreme Diskrepanz zwischen dem, was wir erlebt haben und was am nächsten Tag in den Zeitungen gestanden ist. Wir haben den ganzen Tag über keinen Journalisten-Kollegen getroffen. Die Medien recherchieren nicht vor Ort, sondern übernehmen kritiklos die Presseaussendungen der Behörden. Die Sichtweise der Fans kommt in der voreingenommenen und stigmatisierenden Berichterstattung kaum vor. Rai uno hat am Mittwoch erstmals auch andere Personen als Sicherheitskräfte und Politiker zu Wort kommen lassen, deren Erfahrungen sich mit dem decken, was auch wir erlebt haben. (Thomas Hirner, derStandard.at, 5. September 2008)