Die Grazer Autorin Olga Flor, mit "Kollateralschaden" auf der "Longlist" des Deutschen Buchpreises, beobachtet das Zerfallen der Städte.

Foto: Corn

Graz - Grazer Supermärkte unterscheiden sich in nichts von anderen, vergleichbaren Nahversorgungsunternehmen. Sie werden ordentlich klimatisiert, sie riechen nach nichts. Sie versetzen die Konsumenten mittels sedierender Musik in eine angenehme Trance. Am Weg vorbei an gestapelten Dosen, an beschlagenen Kühltruhen und appetitlichen Wursttheken verkümmert das Leben der Individuen: Menschen werden für die unabdingbare Dauer ihrer lebensnotwendigen Einkäufe zu Konsumenten. Sie verkümmern.

Exakt über die Zeitspanne einer Stunde erstreckt die Grazer Autorin Olga Flor die Handlung ihres dritten Romans Kollateralschaden (verlegt bei Zsolnay), der nunmehr auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gewandert ist. Sie zerhackt die "öffentliche" Zeit, um sich als Erzählerin in die Innenleben eines Halbdutzends von Figuren hineinzumengen. Menschen wie du und ich erfahren das "Vergnügen" des Lebensmitteleinkaufs im Supermarkt als diejenige Stunde, in der sie nichts mehr voneinander wissen wollen.

Dieses wunderbar politische Buch erzählt, wie Flor im Gespräch erklärt, auch von der Aufhebung dessen, was unsere Gemeinwesen ehedem ausgemacht hat. Die Innenstädte würden zunehmend "privatisiert" . "Straßen sind ja noch öffentlich", sagt Flor, und sie blickt auf den altweibersommerlichen Grazer Stadtpark hinaus. Die kommunalen Schaumkaffeetrinker scheinen von keinerlei Zeitdruck geplagt. Fahrräder klappern im Wind. Aber für die Dauer seines Konsumverhaltens begegnet ein Mensch dem anderen - spätestens im Geschiebe vor der Kassa - als Wolf. In den Weichkäse- und Joghurtbezirken unserer Daseinsvorsorge gilt keine Solidarität mehr, gibt es kein sozial konzertiertes Handeln.

Den Verlust der "Agora" nennt Flor dieses Phänomen. "Agora" nannte man die zentralen Versammlungsplätze in der altgriechischen Stadt, der "Polis" . Hier wurde, von Gleichen zu Gleichen, in öffentlicher Auseinandersetzung Politik getrieben. Bedürfnisse wurden artikuliert, Interessen miteinander abgeglichen. Flor, eine gelernte Physikerin, hat ihre Schreibhaltung der Genauigkeit verpflichtet. Sie konstatiert - wie schon in dem perfide "romantisch" verbrämten Vorgängerroman Talschluss - in aller Trockenheit die Aufkündigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Training im "Parkour"

Doch in die Tempel des Konsums brechen neue Gladiatoren herein. Von einem solchen 15-Jährigen erzählt auch Kollateralschaden: Jugendliche in französischen Vorstädten eignen sich die Shoppingmalls gewaltfrei an. "Parkour" heißt ein Spiel, in dem das Sortiment eines Supermarkts kurzerhand in ein Hindernisgelände umgewidmet wird. Die modernen Stadtindianer überqueren atemlos Stapel und Regale. Nicht die schnellstmögliche, sondern die eleganteste Überwindung der selbst gewählten Hindernisse zählt! Die Artisten der Dosenstapel filmen jede Kür mit. Auf YouTube kann man die Proben ihrer Kunst bewundern.

"Erfunden wurden diese Hindernisrennen von David Belle," so Flor. "Der Sohn eines Indochina-Veteranen führt dessen, Überlebensmethode‘ für unwegsames Gelände fort." Willkommen in den urbanen Camps der Dschungelkrieger!

Aus dem "Anschlag" eines solchen "Kriegers" resultiert in Kollateralschaden eine ganze Kette von Missverständnissen: Soziale Störfälle provozieren das Eingreifen einer tendenziell blinden Ordnungsmacht. Am Schluss gibt es einen Toten zu beklagen; die vielen, kunstvoll zerrissenen und wieder ineinander verknoteten Erzählstränge reißen ab.

"Ich mag solche auf den ersten Blick harmlos wirkenden Situationen", sagt Flor: "Meinem Roman liegt die unterschwellig gegenwärtige Terrorangst zugrunde. Der Supermarkt drängt sich mit der Zeit als Bild auf: Die Angst, oder eher eine mit einer gewissen Lustangst verbundene Bereitschaft, Terror zu erwarten, wird schließlich zum Selbstläufer." Erst dadurch würde die Bedrohung unserer Wohlstandszonen überhaupt erst real. Mit breitem Lächeln erzählt Flor, wie ein kunstvoll verfremdetes Bild des Starfotografen Andreas Gursky in der Tate Modern in London sie zum Schreiben angeregt habe: "Ich sah lauter Konsumschachteln übereinandergetürmt - und die Phalanx wirkte auf mich realer als alles Reale!"

Kein Comeback der Ideologien

In Wahrheit markiert das Erscheinen von Kollateralschaden die Rückkehr des Politischen in die heimische Erzählliteratur. Autorinnen wie Flor (40), die ihre Kindheit in Köln verbrachte, um, wie sie erzählt, "schweren Herzens" nach Graz zurückzukehren, lehnen Ideologien ab.

Ideologiekritik wird durch ungerührtes Hinschauen geleistet. Eine Heldin des Buchs ist Kommunalpolitikerin: Wenn man will, kann man in dem Porträt einer von Wünschen und Kummer aufgefressenen Leistungsethikerin das Echo auf die FPÖ-Stadträtin Susanne Winter vernehmen. Diese wurde dadurch überregional bekannt, indem sie meinte, den Propheten einer großen monotheistischen Religion des Kindesmissbrauchs "überführen" zu müssen.

"Ich interessiere mich nicht für Literatur, in der eine ,Wahrheit‘ mit dem Zaunpfahl winkt" , bekennt Flor: "Meine Romane besitzen vergleichsweise idyllische Oberflächen, darunter können unabgegoltene Widersprüche begraben liegen." Mit dem Erhalt des Deutschen Buchpreises rechnet sie nicht unbedingt. Immerhin ist Kollateralschaden bereits in die zweite Auflage gegangen (erste Auflage: 4000 Stück). Sie begegnet der heimischen Politik mit Achselzucken, dem Literaturbetrieb betont nüchtern-sachlich.

Flor erzählt von einer Gesellschaft, die das große Fressen propagiert, aber von ihren eigenen Einrichtungen aufgezehrt wird: "Wirklich katastrophal fand ich, dass sich verantwortliche Politiker jüngst einer bestimmten Zeitung andienten! Wenn die Trennung dieser hochsensiblen Sphären nicht mehr gewährleistet wird" , dann, so Flor, gute Nacht! Dann gehen selbst die Deckenlichter in den Supermärkten aus. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 05.09.2008)