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Seisenegg, jenes Dorf in der Nähe von Amstetten, in dem mein Vater aufwuchs, hatte alles vorzuweisen, was man sich von einem Dorf erwartet: zwei Wirtshäuser, ein Feuerwehrdepot, eine Greislerei, einen Teich, einen Landmaschinenmechaniker. Die Greislerei wurde übrigens vor einigen Jahren durch einen Swingerclub ersetzt, was hinsichtlich der Nahversorgung der Bevölkerung keinen realen Zugewinn bedeutet.

Zwei Dinge zeichneten Seisenegg gegenüber anderen mit Wirtshäusern, Feuerwehrdepots und Landmaschinenmechanikern versorgten Dörfern aus: Erstens gab es dort eine echte Burg mit Burgfried, Verlies und Kanone im Hof. In der Burg wohnte darüber hinaus eine echte Baronin, die zwar meistens eine verwaschene Handwerkerbluse trug, zu der man trotzdem "kaiserliche Hohheit" sagte. Zweitens hatte die Burg Seisenegg einst Katharina Regina von Greyffenberg beherbergt, Österreichs bedeutendste Barockdichterin. Sie hatte in ihren Gemächern ein pietistisches Sonett nach dem anderen verfasst, aber ob das irgendetwas damit zu tun hat, dass mein Vater las, weiß ich nicht.

Sehr wohl damit zu tun hatte die Tatsache, dass meine Großeltern 1944 einen Teil der Milch, die die beiden Kühe im Stall gaben, zurückhielten, nicht an die Molkerei lieferten, sondern selbst Butter daraus machten. Da kein eigenes Butterfass vorhanden war, wurde eine zehn Liter fassende Milchkanne gefüllt, an eine Kette gehängt und so lange rhythmisch hin und her bewegt, bis sich drin Butterklumpen absetzten. Zehn Liter Milch, eine halbe Faust Butter - das dauerte seine Zeit, und meinem Vater, dem die Arbeit zugewiesen worden war, wurde fad. Er nagelte in Augenhöhe einige kurze Bretter an die innere Scheunenwand, sodass sie ein Lesepult bildeten. Auf diese Weise hatte er einerseits beide Hände frei, um die Kanne zu bewegen, konnte andererseits bequem seine Bücher auflegen.

Er las Karl May - die sechs Kara-Ben-Nemsi-Bände, behauptet er - und Schundhefte, wie er heute sagt, Rolf Thoring und Jörn Faro. Die Hefte borgte er sich von seinen Freunden aus, für die Bücher war er in der Stadtbibliothek Amstetten eingeschrieben. Einzig zum Umblättern musste er die Hand von der Kanne nehmen, erzählte er. Außerdem erzählte er davon, wie seine Mutter Zuckerrübenschnitzel auskochte, um zu etwas Sirup zu kommen, wie im Herbst vierundvierzig die Äpfel gut gediehen und es daher ständig Apfelstrudel gab, viele Äpfel in einem billigen Mehl-Wasser-Teig, ohne Rosinen, ohne Brösel, mit ein paar Flocken der selbstgerührten Butter drin, und wie ihm dadurch für den Rest seines Lebens eine höchst ambivalente Haltung zu Apfelstrudel eingepflanzt wurde.

Bevor Kinder Bücher lesen ...

Bevor Kinder Bücher lesen ...


Er erzählte von seinem Zwillingsbruder, der viel weniger las als er, vom Nachbarn, den sie nach Dachau brachten, weil er beim abendlichen Verdunkeln ein Fenster vergessen und ihn der andere Nachbar denunziert hatte. Er erzählte von der englischen Spitfire, die im Tiefflug über die Wiese herangedröhnt war und ihn und seinen Bruder beschossen hatte, als sei es ein Spaß, von den zwei Soldaten, die die SS an der Stadteinfahrt nach Amstetten einfach an einen Laternenpfahl gestellt und in den Kopf geschossen hatte, und keiner hatte sich getraut, sie wegzuräumen, und von jener Nacht, in der auf dem Amstettner Frachtenbahnhof die Ölzüge brannten - wie über dem Hügel der Feuerschein zu sehen war und das Donnern zu hören, als die Waggons explodierten.

Er erzählte schließlich, wie sein eigener Vater, der bei der Eisenbahn am Gleisbau arbeitete und dort gebraucht wurde, ständig damit rechnen musste, eingezogen zu werden, und wie die Mutter ein Magengeschwür bekam und er selbst trotz allem fischen ging. Zwischendurch kehrte er immer wieder zur Szene zurück, in der er da am Bretterpult stand, die Kanne hin und her schwenkte, Butter erzeugte und von Hadschi Halef Omar las, von Rih, dem wunderbaren Pferd, und vom Schut.

Wäre das jetzt eine theoretische Abhandlung, könnte man sich Gedanken machen über die Rolle, die Bücher bei der Abwehr kindlicher Ängste spielen, über ihre Funktion als Fluchtburgen, Schutzräume oder herbeiimaginierte gelobte Länder. Man könnte nachdenken über die Lektüre als den ausgefeiltesten psychischen Defensivmechanismus überhaupt und über die Frage, ob in den Charts der Sublimierungstheorie das Butterrühren in Zeiten der Not oder das Lesen höher anzusiedeln wäre. Glücklicherweise legen wir wenig Wert auf Theorie.

Die Geschichte, die mein Vater später erzählte, die neben jener von Butter und Pult zur zweiten Lieblingsgeschichte meiner Kindheit wurde, spielt zu einem etwas früheren Zeitpunkt. Es ist möglicherweise zugleich die Geschichte der ersten und einzigen Tracht Prügel, die er von seinen Eltern erhielt, aber diesen Aspekt hat er immer nur angedeutet. Im Sommer 1938, mein Vater war noch keine sechs Jahre alt, zog er mit seinem Bruder und seinen Freunden durch den Park unterhalb des Schlosses. Da sie jüngst erst Soldatenkolonnen gesehen hatten, schritten die Buben in Reihe, und da sie vermutlich auch HJ-Aufmärsche gesehen hatten, wussten sie, dass etwas fehlte. Einer von ihnen nahm einen Stock vom Boden auf, und bei einem anderen fand sich ein Sacktuch, das drangeknüpft wurde. Diese Fahne wurde vorangetragen, und auf eine Weise, die nicht mehr exakt zu rekonstruieren ist, kam auch ein Spruch zustande. "Heil Schuschnigg!" , brüllten die Buben, "Heil Schuschnigg!" , und paradierten so lange zwischen den Douglasien und Wymouthkiefern, bis die Wirtin mit rotem Kopf daherstürzte, sie anbrüllte, sie sollten auf der Stelle den Mund halten, und sie nach Hause brachte.

... lesen ihnen die Eltern vor

... lesen ihnen die Eltern vor


Natürlich könnte man jetzt über das Bedürfnis von Kindern reden, die besten aller Eltern zu haben, und über ihre unendliche Bereitschaft zur Idealisierung, wenn es um das Erreichen dieses Zieles geht. Das heißt, konkret könnte man über meine Bereitschaft reden, die "Heil Schuschnigg!" -Rufe meines Vaters als früheste Manifestation seiner antifaschistischen Grundhaltung zu deuten, aber in Wahrheit wäre das wohl ein wenig lächerlich.

So oder so: Wenn die Eltern nicht dabei sind, machen Kinder absonderliche Dinge. Sie hauen sich die Nasen blutig, sie gehen zeitig ins Bett, sie spielen "Vater, Mutter, Kind" und sie lesen. In all dem tun sie übrigens, was das Paradoxon des Gelingens von Kindheit ausmacht - sie lassen die Eltern hinter sich, indem sie sich mit ihnen identifizieren. Unter anderem findet das darin seinen Niederschlag, dass die überwiegende Zahl der besseren Kinder- und Jugendbücher durch das Fehlen von Eltern gekennzeichnet ist.

Bevor Kinder Bücher lesen, in denen die Eltern fehlen, lesen ihnen die Eltern vor. Auch mir müssen meine Eltern vorgelesen haben, es ist mir allerdings so gut wie nichts davon in Erinnerung, gerade zwei Zeilen aus einem Buch mit Kinderreimen, dessen Titel ich genauso vergessen habe wie den gesamten Rest: "Kommen zwei mit Stecken, wollen dich erschrecken." Daneben waren in etwas hölzerner Manier zwei Schnecken abgebildet, und es ist unmittel-bar einzusehen, dass sie gegen selbstgezimmerte Lesepulte, brennende Ölzüge und überhaupt einen von sich erzählenden Vater keine Chance haben konnten, auch wenn es dort wie da um die Integration kindlicher Ängste gegangen sein mag.

Mit Vorlesen war also nicht viel. Mit Selberlesen sehr wohl.

Petzi-Bücher und Angina

Petzi-Bücher und Angina


Lesen lernen war bei mir untrennbar verknüpft mit Petzi-Büchern, und Petzi-Bücher waren verknüpft mit Angina. Einmal dicker Hals, Fieber, Bettliegen - ein Petzi-Buch, so einfach ging das, und es ging so bis an den Anfang der zweiten Volksschulklasse. Immer öfter hatte ich Angina, bis meinen Eltern die Geduld riss oder sie ernsthaft Angst um meine Gesundheit bekamen. Sie schleppten mich jedenfalls zum HNO-Facharzt, und prompt wurden mir wenig später im Krankenhaus Amstetten die Mandeln gerupft. Ich denke, ich hatte im Spital alle fünf Petzi-Bücher, die ich inzwischen besaß, dabei und baute mir aus ihren wunderbaren Sätzen, die neben den Gebeten, die in meiner Familie aufgesagt wurden, die vertrautesten Sprachgebilde meines damaligen Lebens waren, ein semantisches Nest.

Petzi und seine Freunde Pelle, Pingo und Seebär waren auch sprachlich bei mir. Zum Beispiel: "Endlich fasste Seebär Mut" aus Petzi und der Kobold. Oder der Beginn von Petzi besucht seinen Großvater: "Das gute, alte Schiffchen Mary schaukelte gemächlich auf den Wellen. ,Es ist herrlich wieder auf See zu sein. Wir waren schon viel zu lange an Land!‘, sagte Petzi." Oder jene Szene, in der Seebär seinen Schaukelstuhl zu einem Schlitten umfunktioniert, die dann endet mit: "Und schon glitt Seebär sanft bergab" , das Ganze aus Petzi baut einen Schlitten. Oder als sich in Petzi hat keine Angst Vater Schwein offenbart: "Könnt ihr mir nicht auch beibringen, dass man sich vor Gespenstern nicht zu fürchten braucht? Ich fürchte mich nämlich sehr vor Gespenstern, vor allem vor dem, das oben auf dem Berg steht!"

Nein, Vater Schwein, vor Gespenstern muss man sich wirklich nicht fürchten! Die Sache mit der Angstintegration scheint bei mir mithilfe von Petzi und seinen Freunden recht gut funktioniert zu haben, und noch besser etwas, das man in psychoanalytischer Terminologie die libidinöse Besetzung von Sprache nennen könnte. Gemeint ist ein Vorgang lustvoll verschränkter Imagination und Bedeutungsgebung, der letztlich dazu führt, dass Sätze wie "Das gute alte Schiffchen Mary schaukelte gemächlich auf den Wellen" oder "Und schon glitt Seebär sanft bergab" ein Gefühl von Wohlbefinden und leichtem Schaudern hervorrufen. Die Rachentonsillen waren weg und die Lust am Lesen war da, oder, wenn man will, ein Fieber wurde durch ein anderes abgelöst. Das ganze Leben ist Kompensation - aber das ist nichts als die ziemlich schwach untermauerte zweite Lieblingshypothese meinerseits zum Thema Lebenserklärung.

Das ganze Leben ist Metaphorik, - das ist die Nummer eins. Die Metapher in ihrer paradoxen Vielschichtigkeit, in ihrer Rolle als Überträgerin von Bedeutung und als Evokateurin von Phantasmen ist - metaphorisch gesprochen, also selbstreferenziell formuliert - die Hebamme der Narration und die Hauptspeise der Poesie. Erzählen ohne Metapher ist undenkbar, Lesen daher ebenso.

Zum Thema Metaphorik: Nach Petzi und seinen tierischen Gefährten beschäftigte ich mich eine Zeitlang mit Rittern und ihren Schwertern, was in erster Linie damit zu tun hat, dass bei uns zu Hause zwei Bände Deutsche Heldensagen im Regal standen. Darin waren die Geschichten so adaptiert, dass zum Beispiel Kriemhilde und Brünhild Schneeweißchen und Rosenrot ziemlich ähnelten, dass ferner, ungeachtet der Originalversionen, Siegfried und Dietrich von Bern kämpfend aufeinandertreffen konnten, eine Auseinandersetzung, die klarerweise mit einem Remis zu enden hatte, war es doch vollkommen undenkbar, einen der beiden Topheroen durch die Hand des jeweils anderen zu Tode kommen zu lassen. Siegfried starb letztlich durch die Sache mit Blatt und Drachenblut und durch die Hinterlist Hagens, ganz ordnungsgemäß, und Dietrich wurde überhaupt apotheotisch von dieser Erde entrückt, eine Variante, die einen katholischen Ministranten zwangsläufig ziemlich zufrieden machte.

Die geheimen Favoriten meiner mittelfristigen Ritter-Obsession waren freilich zwei Herren aus der Geschichte um Kriemhilds Rosengarten in Worms - der geigenspielende Volker und der Mönch Ilsan. Das Paar repräsentierte alles, was für einen Jüngling von zehn von Bedeutung ist: Anarchie und Kultur, Rauheit und Religion, Regelkonformität und Subversivität. Es ging vordergründig wie immer um den Kampf und dahinter auch um ganz anderes. Am Ende dringt Volker jedenfalls in den Garten der Maid ein und streicht ihr die Fidel, und Ilsan wälzt sich, Zölibat hin, Zölibat her, völlig enthemmt durch die Büsche, ehe er seine Bartstoppeln zum Kuss in das Fräuleingesicht drückt, bis rote Tropfen die zarte Haut netzen. Man dringt trotz aller Dornen ein ins Gärtlein, und das bisschen Blut am Schluss gehört dazu. Auf einer vorbewussten Ebene leuchtete mir wohl ein, was in Wahrheit Sache war, und der Bewegungsimpuls, den die heftig anschwellende frühpubertäre Triebenergie hervorruft, ist logisch und im Grunde immer die gleiche: Weg von dort, wo man immer schon war!

Vorstellung des Wegfahrens

Vorstellung des Wegfahrens


Das Gelingen von Kindheit bedeutet vor allem, die Eltern hinter sich zu lassen - zur Erinnerung. Das zehnjährige Kind läuft üblicherweise nicht buchstäblich fort, sondern lässt die Eltern in erster Linie metaphorisch hinter sich, soll heißen, es imaginiert sie sich weg. Wenn nun Lesen die libidinöse Besetzung von Fantasie, also des eigenen Imaginationsvermögens bedeutet, schließt sich ein Kreis: Lesen verhilft dazu, sich die Eltern lustvoll weg zu imaginieren, trägt daher zum Gelingen von Kindheit wesentlich bei.

Weit vor jeglicher parentifugaler Lektüre tauchte in meiner Kindheit das Fortfahren in ganz anderer Weise auf, nämlich in Gestalt der Eisenbahn. Böse Menschen behaupten, Amstetten sei in Wahrheit nichts anderes als ein großer Bahnhof mit ein paar Häusern drumherum. Ich hätte dem in meinen ersten Lebensjahren vermutlich aus vollem Herzen zugestimmt, denn es gab damals keinen Ort der Welt, der mich mehr inter essiert hätte. Jeden Sonntag ging ich nach der Messe mit meinem Vater die Bahnhofstraße von ihrem einen Endpunkt, der Herz-Jesu-Kirche, hinunter bis zu ihrem anderen, eben dem Bahnhof. Dort stand dann auf Bahnsteig eins der Personenzug in Richtung Linz, vorgespannt etwas, das ohne Zweifel deutlich mehr Göttlichkeit besaß als alles, dem ich da in der Stunde davor in der Kirche begegnet war, - eine schwarze Dampflokomotive.

Die Lokführer kannten mich bald und luden mich immer wieder ein, auf den Führerstand zu klettern, doch ich traute mich nicht. Ich denke, es war weniger die phallische Monumentalität des Dings, die mich zurückschrecken ließ, und auch nicht die Fülle an geheimnisvollen Geräuschen, die es von sich gab, sondern eher die Tatsache, dass es mich mit Sicherheit überfordert hätte, der Vorstellung des Wegfahrens so viel Konkretheit zu verleihen. Sowohl mein Vater als auch die Lokomotivführer waren klug und drängten mich nicht. Auf diese Weise konnte "Eisenbahn" ungestört den ersten Teil jener metaphorischen Potenz erlangen, mit der sie bis heute in mir repräsentiert ist.

Henrystutzen und Bärentöter

Henrystutzen und Bärentöter


Ich träume von Zügen, die ich vergeblich zu erreichen versuche, von riesigen Uhren über endlos langen Bahnsteigen, von Schaffnern mit eigenartigen Vogelgesichtern und von Kaugummiautomaten in Wartehallen, die nichts hergeben, wie viel auch immer ich einwerfe. Ich bin aufgeregt wie vor einer großen Reise, sooft ich mich zum Bahnhof begebe, überlege ewig, ob ich mich in einen offenen oder einen Abteilwaggon setzen soll, und ob es sich auszahlt, ans Buffet zu gehen, um Reiseproviant einzukaufen. Und ein Buch. Ein Buch muss ich immer dabeihaben, das ist keine Frage, selbst wenn ich nur von Wien nach St. Pölten fahre.

Acht Jahre lang fuhr ich als Gymnasiast täglich mit der Eisenbahn von Blindenmarkt nach Amstetten, eine Strecke von gerade einmal neun Kilometern, die bestenfalls das Erledigen der allerkürzesten Hausübungen erlaubte, wirkliches Lesen jedoch kaum.

Das Leben besteht freilich immer aus Fragmenten und man selbst aus Partialidentitäten. Nebeneinander ist man Verschiedenes. Für mich hieß das: In der Zeit, in der ich bahnfahrender Gymnasiast war, war ich auch Bibliotheksbesucher. Das bedeutete, dass ich an manchen Tagen nach der Schule um dreiviertel zwei mit dem Zug in Blindenmarkt ankam, nach Hause ging, ein Mittagessen in mich hineinschlang, die zur Rückgabe fälligen Bücher in eine der abgrundtief hässlichen Einkaufstaschen meiner Mutter steckte und zum Bahnhof rannte, um den Halb-drei-Uhr-Zug nach Amstetten zu erwischen. Schule und Lesen waren völlig getrennte Bereiche; in die Bibliothek fuhr man extra; die Variante "Ich nehme am Morgen die Bücher mit und gehe im Anschluss an den Unterricht direkt in die Bücherei" existierte nicht, nicht in meinem Kopf und schon gar nicht in umgesetzter Form.

Ein Schritt an den Anfang. Meine Beziehung zur Stadtbücherei Amstetten beginnt im Herbst meines ersten Gymnasialjahres mit Winnetou II. Winnetou II war der einzige Karl-May-Band, den es bei uns zu Hause gab. Keiner konnte sagen, woher das zerschlissene Exemplar stammte, und auch die Frage, warum es gerade Winnetou II war, fand keine Antwort. Die Geschichte fängt jedenfalls damit an, dass Mr. Henry, der geniale Büchsenmacher, Old Shatterhand, dem Ich-Erzähler, ein neues Schnellfeuergewehr übergibt, den Henry-Stutzen, und ihm auch noch sein altes, den Bärentöter, überlässt.

Symbolisch traf das den Zehneinhalbjährigen offenbar ins Herz, sowohl was die Entwicklungsbedürfnisse betrifft als auch auf der Vater-Sohn-Ebene. Natürlich kam bald auch der Apachenhäuptling ins Spiel, und das erste Kapitel endete, wie es enden musste: "Wo immer an den Lagerfeuern zwischen dem Mississippi und dem Felsengebirge von den Taten Winnetous und Old Shatterhands erzählt wurde, da erwähnte man neben der Silberbüchse Winnetous auch den Bärentöter und den Henrystutzen seines weißen Bruders." Damit hatte es mich erwischt, und da Bücherkaufen nicht infrage kam - natürlich des Geldes wegen, aber auch, weil klar war, dass man ein Buch eh im Kopf hat, sobald es einmal gelesen ist -, war der Weg vorgezeichnet.

Ich las in den folgenden Jahren nach und nach alle 53 Karl-May-Bände, die in der Stadtbücherei Amstetten verfügbar waren, einschließlich die Münchmeyer-Serie, also jene Heimatromane, die unter anderem Der Peitschenmüller oder Der Silberbauer heißen. Da natürlich nicht immer alles entlehnbar war, was ich wollte, las ich auch anderes, in der ersten Zeit etwa sämtliche Bücher von Astrid Lindgren, besonders gerne Mio, mein Mio und Rasmus und der Landstreicher, x-mal Die Spatzenelf von Karl Bruckner und später noch öfter das Nanga-Parbat-Buch von Hermann Buhl und Kon Tiki von Thor Heyerdahl.

Die Bibliothekarin kannte mich bald und war in der nur Bibliothekarinnen eigenen Dezenz hingerissen vom Ausmaß meiner Bibliophagie. Hatte ich einmal Verspätung bei der Rückgabe, verrechnete sie mir keine Zusatzgebühr, und wenn ich über Wochen versuchte, Schloss Rodriganda zu bekommen, oder Der Mir von Dschinnistan, hatte sie das Buch schließlich den Fängen der anderen entwunden und legte es wortlos oben auf meinen Stapel. Nichts trübte unsere Beziehung, und erst als ich nach Karl May in eine kurze, aber intensive Science-Fiction-Phase eintrat, zog sie ab und zu die Augenbraue hoch. Das irritierte mich, genau genommen, gar nicht. Lediglich nachdem ich einen besonders absurden Roman gelesen hatte, der auf der Hohlwelttheorie basierte, also auf der Annahme, das gesamte Weltall stecke in Wahrheit in einer Kugel drinnen und wir Menschen gingen auf ihrer Innenfläche spazieren, was man im Übrigen daran ablesen könne, dass Schuhsohlen in der Regel vorne und hinten am stärksten abgelaufen seien, schaute ich ein wenig besorgt nach ihr und verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Die Bibliothekarin sagte jedoch nobel nichts.
Bibliotheken sind Reservate; für die Hohlwelttheorie zum Beispiel; oder für das Sich-Hinsetzen, obwohl man doch längst schon unterwegs sein sollte; für das Aufbewahren und Katalogisieren von Dingen, die Gewicht haben; für die Gewissheit, dass es manchmal genügt, vorhandene Information einfach abzustauben; oder etwa für das Skandalon, dass Papier immer schon Kriege überdauert hat. Bibliotheken sind vor allem jedoch Übergangszonen; gerade so wie die Hand der Mutter für das Kleinkind, das laufen lernt; oder wie Schule in ihrer idealtypischen Form; oder wie Urlaub oder der Fußballplatz oder der Wirtshaustisch oder in Wien das Kaffeehaus. Übergangszonen, in denen einander das Imaginierte und das Reale nicht im Weg sind, in denen das Metaphorische und das Konkrete friedlich koexistieren; Übergangszonen schließlich zwischen dem Fremden, das man sich zu eigen macht, und dem originär Eigenen.

Der Schakal. Das war es!

Der Schakal. Das war es!


Die Stadtbücherei Amstetten hatte für mich ihre Funktion als Übergangszone endgültig erfüllt, nachdem ich Frederick Forsyths Roman Der Schakal gelesen hatte. Ich weiß nicht mehr, was mich nach dem Buch hatte greifen lassen, ob es der von den Karl-May-Bänden vertraute Umfang war oder der blau-graue Einband oder der Klappentext, der Spannung verhieß. Ich weiß hingegen noch sehr gut, dass ich hintennach das Buch weglegte mit dem Gefühl "Das war es!" und dass das nicht nur mit dem Politischen zu tun hatte, das in meiner Lektüre neu war, nicht nur mit der Verwunderung darüber, dass man sich primär mit dem Bösewicht identifiziert hatte; auch nicht nur mit der ersten expliziten Sexszene, der ich begegnet war und von der ich mir bis heute einen Satz gemerkt habe: "Es machte hörbar ‚Plopp‘, als das Mädchen den Kopf wenige Zentimeter hob." Das Gefühl umfasste sämtliche Schluchten, Wüsten und Prärien, durch die ich geritten war, die Welten, ob hohl oder nicht, durch die ich mich zeitreisend bewegt hatte, all die Kämpfe, die ich ausgefochten hatte.

In dem Buch gibt es zwar keine Eisenbahn und kein Pferd, aber ein Gewehr, das nach Henrystutzen, Bärentöter und Silberbüchse für mich als Übergangszonensymbol gut brauchbar war - eine speziell angefertigte Präzisionswaffe, die erst als Krücke dient, dann tatsächlich zweimal abgefeuert wird. Am Schluss beugt der Präsident seinen Kopf unvermittelt nach vorn und entgeht so dem Tod, und dann stirbt der Held, ziemlich blutig und ziemlich lapidar.

Als ich das Buch zurückgab, machte die Bibliothekarin den Eindruck, als sei sie sehr damit einverstanden, dass ich es gelesen hatte. Ich denke, sie hatte eine kleine Ahnung von dem Gefühl und der Klarheit, die in mir entstanden waren.

Mir war klar geworden, dass das Überleben manchmal von Zufällen abhängt und dass Schakale trotz ihres schlechten Rufes respektable Tiere sind. Mir war klar geworden, dass ich ein Gespräch mit meinem Vater zu führen hatte; ein Gespräch über die Höhe meines Taschengeldes, geknüpft an die Frage, ob es nicht eindeutig Bücher gab, die man besser besaß, als ausborgte. Mir war schließlich klar geworden, dass jener Band Winnetou II mit Sicherheit seinerzeit auf dem selbstgezimmerten Lesepult meines Vaters gestanden war und irgendjemand - keiner weiß, wer - den Entlehnzettel hinten herausgerissen hatte.

(Paulus Hochgatterer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 06./07.09.2008)

Wenn die Eltern nicht dabei sind, machen Kinder absonderliche Dinge: Sie hauen sich die Nase blutig, sie spielen "Vater, Mutter, Kind" - und sie lesen! Foto: Corbis