Bild nicht mehr verfügbar.

Der Stein von Rosetta war der Schlüssel zum Dechiffrieren der altägyptischen Schriftzeichen.

Foto: AP/Photo / Edmond Terakopian, PA

Am Anfang war bekanntlich das Wort - zumindest in der Schöpfungsgeschichte der Bibel. Irgendwann wurde das Wort auch zur Schrift, und zwar - so weit sind sich die meisten Wissenschaftler heute einig - immer in Verbindung mit Religionen, mit rituellen Handlungen. Es waren nicht große Schlachten, von denen zu erzählen war, nicht Gesetze, die es niederzuschreiben galt, und schon gar keine Lyrik, die auf ihre Verse wartete, die Menschen zuerst dazu brachte, erste Schriftzeichen zu entwickeln. Es war der Glauben an diverse Götter und Göttinnen und schließlich die "Verwaltung" dieses Glaubens. Vor allem in theokratischen Systemen, wo mächtige Priester ähnliche Aufgaben wie Beamte erfüllten. Die Kenntnis von Schrift war für sie auch Machterhaltung. Und ohne Schriften hätten sich Hochkulturen niemals so entwickeln können, wie sie es taten: Sämtliche Naturwissenschaften wären ohne die Möglichkeit von Aufzeichnungen undenkbar.

"Gesegnet sei, wer die Schrift erfand", zitierte folgerichtig der deutsche Schriftsteller Jean Paul einen indischen Spruch. Doch in der Fachwelt herrscht alles andere als Einverständnis darüber, welche Kultur zuerst ein Zeichensystem entwickelt hat, das man als Schrift bezeichnen kann, wer also Mitteilungen durch Malen, Kerben, Kratzen, Ritzen oder ähnliche Vorgänge verfasst hat. Die Theorie, dass die Sumerer etwa 3500 v. Chr. die Ersten waren, die etwa über die Anzahl von Opfertieren Listen führten und Schriftzeichen auf Tongefäßen und Siegeln anbrachten, hält sich in der eigentlich noch jungen Disziplin der Linguistik trotz vermehrter Widerlegungen.

"Ein erstaunlich hartnäckiger Mythos", wie Arne Ziegler, Professor für Deutsche Sprache am Institut für Germanistik in Graz, meint. Denn eine andere, recht geheimnisvolle Kultur, die einige Annahmen der klassischen Archäologie über den Haufen warf, dürfte mit ziemlicher Sicherheit schon rund 2000 Jahre vor den Sumerern "geschrieben" haben. Diese Kulturen tüftelten nicht im fernen Zweistromland Mesopotamien an ihren Zeichen für Worte und Zahlenwerte, sondern auf einem Areal des heutigen Serbien, Bosnien, Rumänien und in südlichen Teilen Ungarns. Nach Ausgrabungsstätten im östlichen Vorort Belgrads, Vin-èa benannt, sprechen Archäologen von den Vinèa-Kulturen. Erste Ausgrabungen in dieser Gegend förderten schon vor genau hundert Jahren in Form von beschrifteten Gegenständen die Existenz einer Hochkultur zu Tage, deren Alter lange um einige Jahrtausende zu jung geschätzt wurde.

Friedliche Kultur ausgelöscht

Die heute vorhandenen Radiokarbondaten berichtigten diese Schätzungen. Es war unter anderem die 1994 verstorbene legendäre Archäologin Marija Gimbutas, die auf die Bedeutung der Vinèa-Kulturen und ihrer Schrift hinwies. Die auch linguistisch (sie war Expertin für europäische Sprachen), ethnologisch und religionswissenschaftlich gebildete Gimbutas, die aus Litauen stammte und unter anderem in Kalifornien lehrte, glaubte übrigens, dass diese Kulturen, sie sprach von "alteuropäischen" Kulturen, ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den Geschlechtern pflegten und nicht kriegerisch lebten. (Es wurden Figurinen von weiblichen Gottheiten, verschiedenste durch Malerei und Einkerbungen beschriftete Gefäße und Grabbeigaben, aber keine Waffen gefunden.) Doch die Geschichte meinte es mit dieser Kultur nicht gut: Sie verschwand gänzlich, wobei auch die Gründe darüber im Dunkeln oder vielleicht noch in archäologischen Äckern liegen. "Etwa 3500 vor Christus verfiel Europa wieder in die Schriftlosigkeit", bringt es Ziegler auf den traurigen Punkt.

Ob sich die Entwicklungen hier völlig unabhängig von späteren Schriftsystemen ereigneten, ist nicht gesichert. Interessant ist auch, dass in den Vinèa-Kulturen Swastika (im Sanskrit etwa für Segens- oder Glücksbringer) auftauchten, die, bevor sie die Nazis Jahrtausende später für immer negativ besetzten, auch in diversen anderen Kulturen, in Indien, China, auf Kreta oder bei den Kelten verwendet wurden.

Einiges aber sei noch zur Ehrenrettung der Sumerer gesagt. Denn sie setzten in den Gebieten, wo heute der Irak und Nordostsyrien liegen, "wichtige Impulse für die Schriftlichkeit in Europa", erklärt Arne Ziegler. Während fast alle der rund 400 heute bekannten Schriften (Abarten und Vorläufer sind hier nicht mitgezählt) ihren Ursprung in Piktogrammen, also der Darstellung in Bildern, haben, entwickelte sich "die Keilschrift der Sumerer sehr viel schneller als anderswo weiter".

Dieser Wandel von einer bildhaften zu einer Silben- und schließlich Konsonantenschrift mit Zeichen, die sich immer mehr auf die Lautung der Worte bezogen, vollzog sich bei den Sumerern verglichen etwa mit der chinesischen Schrift oder den Hieroglyphen der Ägypter, die lange nach einer Art von Bildrätsel-Schema (Rebus) funktionierte, rasant.

Etwa 2500 Jahre lang war die sumerische Schrift im alten Orient vorherrschend. Schließlich wurde sie unter anderem von der phönizischen Schrift, die später nur noch über 22 Zeichen verfügte, verdrängt. Von ihr beeinflusst, entwickelten sich in der Folge immer mehr verschiedene Schriften, so auch jene der semitischen Sprachen Aramäisch (aus dem sich später wiederum die arabische Schrift entwickelte), Althebräisch, und das griechische Alphabet. Auch das heute für Deutsch und für rund 30 andere Sprachen verwendete lateinische Alphabet entwickelte sich - über das westgriechische und etruskische Alphabet - aus dieser Linie. Unser Alphabet steckt vergleichsweise noch in Kinderschuhen, wurde es doch erst ab etwa 700 v. Chr. verwendet. (Colette M. Schmidt/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7. 9. 2008)