Brüssel/Hannover - Der jahrelange Streit zwischen Berlin und Brüssel um das VW-Gesetz eskaliert. Die EU-Kommission will die deutsche Bundesregierung erneut vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen der Sonderrechte beim Autohersteller verklagen, wie der Sprecher von Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy am Dienstag in Brüssel ankündigte. Der irische Kommissar werde seinen Kollegen diesen Schritt "so schnell wie möglich" vorschlagen.

Da es sich um ein mehrstufiges EU-Verfahren handelt, hat Berlin nach seiner Darstellung jedoch noch eine letzte Chance, eine drohende Klage abzuwenden. Auch im Tauziehen um mehr Macht von VW-Großaktionär Porsche in Wolfsburg spielt die Auseinandersetzung eine Rolle. Der Sportwagenhersteller dringt darauf, das Schutzgesetz abzuschaffen und begrüßte die Ankündigung des Sprechers.

Die EU-Wettbewerbshüter stoßen sich an einer in der Neufassung des VW-Gesetzes vorgesehene Regelung, wonach Niedersachsen mit gut 20 Prozent VW-Stimmrechtsanteil sein Vetorecht in der Hauptversammlung behält. "Die Sperrminorität muss entfernt werden", sagte der Sprecher. Im Aktienrecht üblich sind 25 Prozent. Im Visier der EU-Kommission ist jetzt eine im deutschen Kabinett vereinbarte Fußnote, wonach bei rechtlichen Schritten der EU-Kommission die Sperrminorität doch noch gestrichen werden könnte. "Der Fall würde dann wohl gegenstandslos werden", sagte der Sprecher.

Die Protokollnotiz war bei der Verabschiedung des Gesetzentwurfs vereinbart worden. Die Regierung in Berlin hatte im Frühjahr deutlich gemacht, dass Deutschland nicht erneut ein Verfahren vor dem EuGH riskieren will. Deutschlands Wirtschaftsminister Michael Glos, der das Gesetz für überflüssig hält, hatte seinerzeit auf europarechtliche Bedenken hingewiesen.

Zwangsgelder drohen

Der EuGH kann zwar nationale Gesetze nicht aufheben, aber Mitgliedstaaten auffordern, sie abzuschaffen. Da ein erneuter Richterspruch der zweite gegen die Regelung wäre, drohen Berlin bis zur Abschaffung diesmal hohe Zwangsgelder. Die IG Metall kritisierte das Vorhaben der EU-Kommission scharf und kündigte für Freitag eine Großdemonstration bei VW in Wolfsburg mit gut 30.000 Teilnehmern und IG-Metall-Chef Berthold Huber als Hauptredner an. Am selben Tag berät auch der Aufsichtsrat des Konzerns. "EU-Kommissar McCreevy sollte endlich das Säbelrasseln einstellen", sagte Huber. "Die IG Metall will nicht weniger, sondern mehr VW-Gesetz."

Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger forderte die Bundesregierung dagegen auf, den Entwurf zur Neufassung des Gesetzes "zu überdenken". Aktionärsschützer verlangten von der Bundesregierung die ersatzlose Streichung des VW-Gesetzes. "Volkswagen muss endlich die Chance haben eine normale AG zu werden", sagte der Hauptgeschäftsführer der Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), Ulrich Hocker. VW wollte sich wie bisher nicht äußern. Die Regierung in Berlin reagierte abwartend. Das Wirtschaftsministerium betonte, noch gebe es keinen Beschluss der EU- Kommission für eine erneute Klage.

Klare Fakten

Die Kommission hatte im Juni das Verfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet und nach Brüsseler Angaben im August eine Antwort bekommen. Darin sei Berlin nicht von seiner Position abgewichen, sagte der Sprecher von McCreevy. "Die Fakten sind klar." Brüssel wirft der Regierung vor, sie habe ein Urteil des höchsten EU- Gerichts aus dem vergangenen Jahr zu dem Schutzgesetz nicht umgesetzt. Das VW-Gesetz stammt aus dem Jahr 1960 und soll feindliche Übernahmen verhindern. McCreevy sieht die Gefahr, dass die Regelung potenzielle Investoren abschreckt.

Die Luxemburger EU-Richter hatten sich vergangenen Oktober in einem Urteil ausdrücklich gegen die niedrige Sperrminorität bei Europas größtem Autobauer gewandt. Die Bundesregierung hatte daraufhin entschieden, das Gesetz neu zu fassen.

Ein Porsche-Sprecher sagte in Stuttgart zu der Ankündigung aus Brüssel: "Das ist durchaus in unserem Sinne." Und weiter: "Wir sind der festen Überzeugung, dass ein VW-Gesetz nicht notwendig ist." Porsche will noch in diesem Jahr seinen Anteil bei VW von derzeit knapp 31 Prozent auf mehr als 50 Prozent aufstocken.

Absehbar

Oettinger zufolge war mit einer neuerlichen Klage gegen das VW-Gesetz zu rechnen. "Es war absehbar", sagte der baden-württembergische Regierungschef der Deutschen Presse-Agentur dpa. Er forderte die Bundesregierung auf, "ihren Gesetzentwurf sehr rasch vor den Beratungen des Bundesrates zu überdenken". Der neue Entwurf müsse dem EU-Recht entsprechen und absehbare Risiken für Deutschland vermeiden. Baden-Württemberg war in der vergangenen Woche mit zwei Anträgen zur Abschaffung des VW-Gesetzes im Rechtsausschuss des Bundesrates gescheitert.

Die niedersächsische Staatskanzlei reagierte dagegen gelassen. "Die Position von Kommissar McCreevy ist altbekannt", sagte ein Sprecher in Hannover. "Die Punkte, die der EuGH moniert hat, werden im neuen VW-Gesetz eins zu eins umgesetzt."

VW-Gesamtbetriebsratschef Bernd Osterloh verteidigte das umstrittene VW-Gesetz. "Wir brauchen dieses Gesetz, weil es uns Schutz bietet", schrieb Osterloh in einem Brief an die Belegschaft des Autobauers am Dienstag in Wolfsburg. "Mit ihm ist Volkswagen das Unternehmen geworden, was es heute ist: Die Nummer drei der Welt." Die EU-Kommission wolle das Gesetz "von der Landkarte der sozialen Rechte wegradieren." Niedersachsens IG-Metall-Chef Hartmut Meine kritisierte in Hannover, die EU-Kommission gefährde mit ihrer Haltung nicht nur Arbeitsplätze in Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg, sondern letztlich in ganz Europa. "Es ist unerträglich, dass sich der Binnenmarktkommissar zum willfährigen Gehilfen des Kapitalmarktes und einiger Unternehmen macht." (APA/dpa)