Es herrscht Krieg in den Vorstädten Neapels: "Gomorrah", Matteo Garrones kompromissloses Panoptikum über die Verstrickungen der Camorra, läuft ab Freitag in heimischen Kinos.

Foto: Polyfilm

STANDARD: Herr Garrone, Roberto Savianos Buch "Gomorrah" , das Ihrem Film als Grundlage dient, beschreibt die Camorra auf neuartige Weise als verbrecherische Welt der Gewinnmaximierung. Worin lag für Sie die Herausforderung einer Adaption?

Garrone: Savianos Buch hat tatsächlich die Vorstellung der Camorra neu geformt. Für uns war es interessant, einen vergleichbaren Ansatz zu finden: Wir haben versucht, den menschlichen Aspekt zu betonen, die Widersprüche und Konflikte der Personen, die Teil dieses Systems sind. Sie befinden sich in diesem Räderwerk, aber sind sich dessen gar nicht so bewusst. Sie wissen gar nicht richtig, was rings um sie passiert.

STANDARD: Das heißt, man muss die gängige Perspektive des Kinos verändern - und sich jede Romantisierung verkneifen?

Garrone: Man könnte sagen, es geht nun mehr um die Stärke der Gesichter. Ohne Glamour. Die glamouröse Dimension anderer Mafiafilme wollten wir umgehen. Das Kino modelliert ja in der Regel die jungen Camorristi und nicht umgekehrt. Sie sehen Filme wie Scarface oder Der Pate und kommen dabei erst so richtig auf den Geschmack. Sie wollen so werden wie die Paten im Kino, obwohl ihre Realität natürlich völlig anders ist.

STANDARD: Wie die beiden Jugendlichen im Film, die Rollen aus "Scarface" imitieren.

Garrone: Das ist eine emblematische Szene: Die zwei Jungs befinden sich in einer Villa, die von einem Camorristenboss gebaut wurde. Er ließ die Villa nach dem Haus von Tony Montana, der Hauptfigur von de Palmas Scarface, entwerfen. Genau das gleiche Haus: Das hat etwas von moderner Archäologie und zeigt eine unglaubliche Monomanie - die Leute fühlen sich tatsächlich wie römische Kaiser.

STANDARD: Das Buch bietet viele Protagonisten an. Nach welchen Kriterien haben Sie mit Saviano die Auswahl getroffen?

Garrone: Wir haben versucht, uns auf jene Persönlichkeiten zu konzentrieren, die originell waren - in dem Sinne, dass sie bisher fürs Kino nicht genutzt wurden. Die Personen, die wir nach Themen zusammengestellt haben, halfen uns dann, die Erzählung zu formen.

STANDARD: Sie haben sich vor allem für das niedere Personal der Camorra entschieden?

Garrone: In den meisten Fällen werden die Figuren vom System aufgerieben. Don Ciro, der Geldbote, erzählt vom Krieg, der im Secondigliano herrscht - er verrät etwas vom Verhältnis zur Angst, weil er permanent um sein Leben zittern muss. Totò, der Junge, der zur Gang stößt, erzählt von Initiationsritualen. Man erfährt von seinen Vorstellungen der Camorra, aber auch von der Entzauberung dieser Welt, der er so gerne angehören möchte. Bei Pasquale, dem Schneider, geht es um Schwarzarbeit, aber auch um das Verhältnis zur Kunst.

STANDARD: Der Umgang mit Gewalt ist bemerkenswert: eine erschreckend abrupte Form der Routine.

Garrone: Das war eines der großen Risiken des Films: Die Gewalt galt es zu benutzen. Wenn man an Savianos Buch denkt - da wimmelt es nur so von Morden. Wir wollten Gewalt als Funktion der Charaktere zeigen, sie sollte etwas über die Protagonisten vermitteln und nie über sie hinausreichen.

STANDARD: Die Stärke des Films resultiert auch aus seiner Authentizität. Sie haben an Lokalschauplätzen gedreht - gab es da keine Probleme, Distanz zu wahren?

Garrone: Ich wollte ja, dass der Zuschauer dem Geschehen so nahe wie möglich kommt. Die Distanz suchte ich allein in dem Sinne, dass ich nicht bewerten wollte. Dass eben erst die Taten der Figuren dem Zuschauer die Möglichkeit zu Urteilen geben. Auf Probleme bin ich beim Dreh nicht gestoßen. Die Gastfreundschaft der Menschen war unerwartet. Sie hätten kalt und abweisend sein können, weil sie ja wussten, was sie erwartet. Das Buch hat ja wie eine Bombe eingeschlagen. Doch die Leute haben gerne mitgemacht und uns ihre Erfahrungen anvertraut. Das hat uns geholfen. Wir konnten verifizieren, was wir machen.

STANDARD: In "Gomorrah" stößt man, trotz des Realismus, immer wieder auf Szenen, die beinahe surreale Qualitäten haben. Einmal rast etwa ein Auto in einen Figurenpark - ein besonders wuchtiges Bild.

Garrone: Ich wollte mit den Mitteln der Kriegsreportage erzählen - umgekehrt komme ich aus der Malerei: Bilder sind für mich also schon immer sehr zentral gewesen. Ich gehe zwar von der Realität aus und befrage diese - dann versuche ich jedoch, sie in eine andere Dimension zu überführen. Das ist das zentrale Prinzip meiner Arbeit - ein Akt der Transfiguration: Etwas bekommt ein anderes Gesicht. Das ist mir wichtiger als Informationen.

STANDARD: Das klingt fast religiös. Suchen Sie nach einer ästhetischen Wahrheit im Bild?

Garrone: Ja, ich suche das Wahre eher als das Reale. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD/Printausgabe, 10.09.2008)