Ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein ist in einem Konzern, in dem 1,3 Milliarden Euro abgezweigt und so lang im Kreis geschickt werden können, bis niemand mehr etwas über ihre Herkunft weiß, nicht zu erwarten. In einem Biotop, in dem Schmiergeldzahlungen als Beratungshonorare schöngeredet und als Durchlaufposten verharmlost werden, wird normalerweise auch nicht gefragt. Denn wer lang fragt, gilt schnell als Querulant, als unzuverlässig und wird auf der Karriereleiter nicht sehr weit kommen.

Das ist in vielen hierarchischen Organisationen so und war beim Elektrokonzern Siemens nicht anders. Richtige Siemensianer halten zusammen, entwickeln Innovationen und hinterfragen Befehle aus der Münchner Zentrale nicht.

Diese blinde Loyalität fällt so manchem Siemens-Manager nun auf den Kopf. Denn Schmiergeldzahlungen sind eben nie bilanzielle Durchlaufposten - auch nicht, wenn sie vom Vorstandsdirektor ganz, ganz oben abgezeichnet wurden. Sie sind auf Euro und Cent zu überprüfen und gegebenenfalls zu stoppen, wenn sie dubios sind.

Ob das auch auf den damaligen Siemens-Bereichsleiter und jetzigen AUA-Chef Alfred Ötsch zutrifft, wird das Gericht in Nürnberg klären. Denn dieses hat ihn längst auf dem Radarschirm - auch wenn der glücklose AUA-Chef das nicht wahrhaben will und versichert, er sei "weder als Zeuge noch als Beschuldigter geladen". Das stimmt, aber nicht mehr lang. Offen ist nur, wann und wo der von der Staatsanwaltschaft als Beschuldigter geführte Ötsch einvernommen wird. Und warum er sich mit fragwürdigen Erklärungen um den Rest seiner Glaubwürdigkeit redet. (Luise Ungerboeck, DER STANDARD, Printausgabe, 10.9.2008)