Brauchen Politiker eigentlich notwendig Charisma? Wenn man die triumphalen US-Nominierungspartei-tage gesehen und die derzeitige Molterer-Diskussion verfolgt hat, ist man geneigt, diese Frage zu bejahen. Aber Achtung: Angela Merkel, eine der erfolgreichsten europäischen Politikerinnen, hat null Charisma. Und soeben hat die SPD als ihren Gegenspieler den ebenfalls total uncharismatischen Außenminister Frank Walter Steinmeier als Kanzlerkandidaten aufgestellt.

Charisma heißt Faszination. Ein charismatischer Politiker ist einer, der sein Publikum in seinen Bann ziehen kann. Einer, dem man abnimmt, etwas ganz Besonderes zu sein, eine interessante und vielschichtige Persönlichkeit, die jeder gern persönlich kennenlernen möchte. Jemand, bei der/dem man unter der Oberfläche noch eine zweite Ebene vermutet, ein Geheimnis, das nicht jedem zugänglich ist. Sexappeal gehört natürlich auch dazu, gutes Aussehen, blendende rhetorische Fähigkeiten und eine gehörige Portion Charme.

Politische Parteien, die einen Charismatiker im Angebot haben, stellen diesen gern mit Getöse der Öffentlichkeit vor. Fanfarenstöße, Luftballons, Glanz und Gloria begleiten seinen/ihren Auftritt. Freilich, der oder die Auserwählte muss diesem Ambiente auch wirklich gerecht werden. Ein gewaltiger Rummel - und dann kommt eine graue Maus? So etwas wäre eine etwas peinliche Angelegenheit.

Trotzdem können auch graue Mäuse gelegentlich gute Politik machen und Wahlen gewinnen. Es gibt Zeiten, in denen die Leute großen Worten und Gesten misstrauen und sich nach solider Sachpolitik sehnen. Die deutsche Kanzlerin, die eher an eine gewissenhafte Studienrätin erinnert als an eine funkelnde Glamour-Frau, ist ein gutes Beispiel dafür. Sie ist der perfekte Gegentyp zu einem Mann wie Obama, der vor Charisma nur so sprüht. Aber sie hat schon eine Wahl gewonnen. Er muss erst beweisen, dass er das kann.

Und wie sieht die Auswahl an Charismatikern in Österreich aus? Echtes Charisma hat nach meinem Dafürhalten keiner der Spitzenpolitiker, die sich am 28.September zur Wahl stellen. Da können die Werber noch so große Plakate mit dem Konterfei der Kandidaten affichieren, wirklichen Zauber strahlt keiner von ihnen aus. Die Leute werden wohl oder übel ihre Wahl nach Inhalten treffen, nach Integrität, Kompetenz, Glaubwürdigkeit. Oder, möglicherweise am häufigsten, nach dem Prinzip: Ich wähle das geringere Übel beziehungsweise so, dass ich ein größeres Übel möglichst verhindern kann.

Viel Lorbeer wird sich auf absehbare Frist in der Politik niemand holen können. Die Zeiten sind nicht danach. Auch das mag ein Grund dafür sein, dass die glänzenden Persönlichkeiten unter den Politikern rar geworden sind, nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa. Überall überwiegt - neben den Primitivpopulisten - der Typ des mehr oder minder tüchtigen Sachpolitikers, der seine Arbeit macht, so gut er kann. Steuerreform, Reform des Gesundheits- und Pensionssystems - alles dringend notwendig, aber langweilig fürs Publikum. Gar nicht sexy.

Nicht zuletzt deshalb brauchen Politiker möglicherweise gar kein Charisma, um erfolgreich zu sein. (Barbara Coudenhove-Kalergi/DER STANDARD, Printausgabe, 10.9.2008)