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Forscher verfolgen via Computer den ersten Protonenstrahl, der in den Teilchenbeschleuniger geschossen wurde.

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Der Jubel im Kontrollzentrum galt der erfolgreich gestarteten Teilchenjagd.

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Um 10.28 Uhr brach der Jubel im Kontrollzentrum aus. Dann verbreitete sich die Freude über das ganze Areal der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) in Genf. Forscher, Studenten, Praktikanten und auch die extra aufgebotenen Sicherheitsleute klatschten begeistert Applaus. "Das ist ein historischer Moment", strahlte der designierte Cern-Generaldirektor, der Deutsche Rolf-Dieter Heuer. "Ich bin schlichtweg begeistert."

Was löste das kollektive Glücksgefühl aus? Nach Jahren intensiver Vorbereitung starteten die Cern-Physiker erfolgreich die größte, komplexeste und teuerste Forschungsmaschine der Welt: Ein Teilchenstrom machte eine erste Runde in dem 26,7 Kilometer langen Teilchenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider (LHC), 100 Meter unter dem schweizerisch-französischen Grenzgebiet.

Über der Erde warteten hunderte Journalisten aus aller Welt, um die Nachrichten zu verbreiten. Das sonst so verschlafene francohelvetische Grenzgebiet verwandelte sich für einen Tag in den Brennpunkt weltweiter Neugierde. Der britische Radio- und TV-Sender BBC meldete: "Success for big bang experiment." Der Journalist des brasilianischen O Estado de São Paolo kündigte den Beginn einer neuen Zeitrechnung an. Robert Aymar, der sichtlich ergriffene Generaldirektor des Cern, sagte: "Uns bewegen heute zweierlei Gefühle, die Freude, dass wir ein großes Ziel erreicht haben, und die Hoffnung auf große Entdeckungen, die vor uns liegen."

Am Ende der vielen anstehenden LHC-Experimente wollen die Forscher mehr über die Geheimnisse des Universums wissen: Der Urknall und die dunklen Teile des Alls bergen noch viele Rätsel. Letztlich will man erfahren: Wie ist die Erde entstanden? Und man will das Higgs-Teilchen nachweisen, ein bisher hypothetisch angenommenes Elementarteilchen.

Dirigiert wird die Jagd nach den Erkenntnissen von Lyn Evans. Kollegen beschreiben den LHC-Projektleiter als bescheidenen Physiker: Selbst am ersten großen Tag des Jahrhundertvorhabens zeigte er sich mit Turnschuhen, Jeans und gestreiftem Hemd. Einem Physiklehrer gleich kommentierte Evans im Kontrollzentrum die einzelnen Schritte des Experiments. Doch innerlich fieberte wohl niemand so stark wie er.

Als der Erfolg immer greifbarer wurde, löste sich auch beim Projektleiter die Spannung. "Wow", brach es aus Evans heraus. "Danke, danke an alle." Den nächsten Freudentaumel wollen die Experten in einigen Wochen auslösen. "Richtig spannend wird es am 21. Oktober", verspricht Heuer. Dann ist geplant, Protonenpakete gegenläufig zu beschleunigen und mit Beinahe-Lichtgeschwindigkeit kollidieren zu lassen.

Wann werden die Forscher zu ersten Erkenntnissen kommen? Zehntausende Computer und tausende Wissenschafter in Forschungseinrichtungen rund um die Welt müssen die Unmengen von Informationen der Experimente sichten, auswerten und dann die Erkenntnisse formulieren. Das kann Jahre dauern (der STANDARD berichtete).

Angst vor dem Ende

Vor dem Beginn der Versuchsreihe wurde von Apokalyptikern mehrfach vor Schwarzen Löchern gewarnt. Diese mysteriösen Abgründe, die aufgrund ihrer starken Anziehungskraft auch Licht verschwinden lassen, könnten sich im Verlauf der Experimente auftun - und die Erde verschlucken. In einem Interview mit der Welt der Physik hatte Heuer, der am 1. Jänner 2009 sein Amt antreten wird, versucht, die Befürchtungen zu entkräften. "Sofern solche winzigen Schwarzen Löcher erzeugt würden, hätten sie aufgrund ihrer geringen Masse nicht genügend Anziehungskraft, außerdem zerfielen sie sofort in Bruchteilen von Sekunden." Heuers Fazit über mögliche Bedrohungen durch den weltgrößten Teilchenbeschleuniger: ungefährlich.

"Wir werden zu neuen Erkenntnissen über die Anfänge und über die Zukunft des Universums kommen, die Erde wird sich aber weiterdrehen," meinte auch der am Cern arbeitende österreichische Teilchenphysiker Christian Fabjan auf Anfrage des Standard. Er jubelte: "Ein fantastischer Tag. Ein toller Erfolg, so etwas Komplexes in so unglaublich kurzer Zeit über die Bühne zu bringen."Eine Begeisterung, die Robert Aymar teilte: "Dieses Experiment könnte unser Verständnis vom Universum radikal ändern. Und damit stillen wir die menschliche Neugier, die so alt ist wie die Menschheit selbst." (Jan Dirk Herbermann aus Genf/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11. 9. 2008)