Der Berliner Politologe und Pakistan-Experte Boris Wilke ist erst vor wenigen Tagen von seiner jüngsten Reise nach Pakistan zurückgekommen. Dass die angekündigten, verstärkten Einsätze von US-Truppen auf pakistanischem Territorium zu einem ernsthaften Konflikt zwischen den USA und der muslimischen Atommacht auswachsen könnte, glaubt Wilke nicht und erklärt im Interview mit derStandard.at, warum.
derStandard.at: Was bedeutet der proklamierte Wille der USA, künftig verstärkt Angriffe über die pakistanische Grenze hinweg durchzuführen, für die innere Stabilität des Landes?
Boris Wilke: Die Übergriffe von Koalitionstruppen aus Afghanistan sind an sich keine Neuigkeit, die gibt es schon seit längerem. Neu ist hingegen die Quantität und die schnelle Abfolge der Angriffe. Auf der anderen Seite sollte man nicht übersehen, dass es durchaus Abstimmungen zwischen der pakistanischen und der amerikanischen Seite gibt. Der pakistanische Armeechef Ashfaq Kayani hat sich erst kürzlich mit Admiral Michael Mullen (als Chairman of the Joint Chiefs of Staff ranghöchster US-Militär, Anm.) getroffen und eine neue Strategie im Kampf gegen Terroristen mit ihm beraten. Insofern ist für mich noch nicht erkennbar, welche Bedeutung die Angriffe und die Reaktion darauf haben.
derStandard.at: Der Unmut über die offenbar nicht genügend erfolgreiche pakistanischen Antiterror-Strategie wird dieser Tage in Washington immer lauter. Warum gerade jetzt?
Boris Wilke: Diesen Unmut gibt es schon sehr lange, das ist eine Litanei, die man seit mehr als zwei Jahren immer wieder hört. Im Juli erst war der pakistanische Premierminister in Washington und Präsident Bush erlaubte seinen Truppen den Grenzübertritt ohne pakistanische Erlaubnis. Jetzt finden diese Angriffe statt, kurz nachdem sich die Armeechefs getroffen haben. Es gibt also einen kontinuierlichen Abstimmungsprozess, was nicht heißt, dass jede einzelne Aktion der USA davon gedeckt ist. Washington wird jedoch nicht dauerhaft über die Köpfe der pakistanischen Regierung hinweg handeln können.
derStandard.at: Das pakistanische Militär hat angekündigt, sich gegen die Verletzung der territorialen Integrität seines Landes durch die US-Einheiten wehren zu wollen. Läuft das auf einen Konflikt zwischen den beiden Verbündeten hinaus?
Boris Wilke: Ich interpretiere die harschen Äußerungen von Armeechef Kayani eher als innenpolitisches Manöver. Er hat heute in Rawalpindi die Konferenz der Corpskommandeure abgehalten, die das wichtigste Gremium innerhalb der pakistanischen Armee bildet. Dort muss er sich Unterstützung für seine Politik holen, starke Worte sind dem sicherlich dienlich. Von einer Konfrontation zwischen den USA und Pakistan würde ich zu diesem Zeitpunkt nicht sprechen.
derStandard.at: Könnten die USA mit ihrem Vorwurf, Pakistan unternehme nicht genug gegen die Aufständischen in seiner Grenzprovinz, nicht auch richtig liegen?
Boris Wilke: Die Zurückhaltung der pakistanischen Seite hat ihren Grund darin, dass das Militär nicht im eigenen Land gegen die eigene Bevölkerung agieren will. Gleichwohl war in den letzten Monaten zu beobachten, dass die Armeeführung gerade unter Kayani verstärkt gegen die so genannten pakistanischen Taliban vorgeht, wobei es über den Erfolg gibt es naturgemäß unterschiedliche Angaben gibt. Seit Beginn des (den Muslimen heiligen Fastenmonats, Anm.) Ramadan ist diese Offensive von Seiten der Regierung einseitig unterbrochen worden. Ob die Offensive insgesamt ausreicht, steht auf einem anderen Blatt, anderseits muss man bedenken, dass sie zu einem Zeitpunkt gestartet wurde, als die machtpolitischen Verhältnisse in Pakistan noch unklar waren.
derStandard.at: Seit vergangenem Samstag hat Pakistan einen neuen Präsidenten, den Bhutto-Witwer Ali Asif Zardari. Sind die US-Angriffe nicht sehr kompromittierend für ihn angesichts der ohnehin schon angespannten innenpolitischen Situation?
Boris Wilke: Bei der Vereidigung Zardaris war der afghanische Präsident Hamid Karzai anwesend, was nicht von allen Zeitungen in Pakistan positiv aufgenommen wurde. Anstatt, wie es von der Öffentlichkeit erwartet worden war, seine politischen Visionen zu offenbaren, hat der in der Bevölkerung nicht unbedingt besonders beliebte neue Präsident damit ein Signal auch gegenüber dem Westen gesetzt, dass Pakistan und Afghanistan künftig in der Bekämpfung von Aufständischen auf beiden Seiten der Grenze enger zusammenarbeiten wollen. Ein stärkeres Symbol kann es eigentlich gar nicht geben. (flon/ derStandard.at, 11.9.2008)