Der Inbegriff der Fiesta: Die am Seil hängende Piñata wartet nur noch darauf, zerschlagen zu werden und
ihren süßen Inhalt freizugeben.

Foto: Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marque

Cobán, Guatemala, Mittelamerika. Am Samstag wird es eine Piñata geben. Nieves Paulina wird ein Jahr alt. Und das will gefeiert werden, kommen wir doch nur alle heiligen Zeiten von Österreich nach Guatemala. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, seit den Morgenstunden wird telefoniert, alle Cousins, deren Kinder und die Onkel und Tanten werden noch einmal an die Einladung erinnert.

Diesmal werden es weniger sein als noch bei der Taufe unserer ersten Tochter Luna Violeta vor vier Jahren. Von den ursprünglich elf Geschwistern des Großvaters von Nieves Paulina sind gerade einmal Onkel Abel und Edwin und die Tanten Aracely und Adita übrig. Krebs, Verkehrsunfälle und die ewige Gewalt haben die Familie dezimiert, ein paar hat es auch in die USA gezogen, illegal, unter miesen Arbeitsbedingungen, einsam, fern der Geborgenheit gebenden Familie. Der irrealen Hoffnung auf ein besseres Leben konnten sie sich nicht entziehen.

Bunte Comicfigur

Wir werden also nur an die 90 Personen sein, groß und klein, jung und nicht zu alt, richtig alt wurden zuletzt nur die Urgroßeltern von Nieves Paulina, Papaíto und Mamaíta. Umso wichtiger ist es, immer wieder Anlässe zu finden, um zusammenzukommen, aus allen Landesteilen und durch uns nun auch aus allen Erdteilen, gemeinsam zu trinken, zu essen, zu tanzen, zu singen und zu lachen. Eine Piñata, diese buntgestaltete Comicfigur aus Pappmaché, die mit Süßigkeiten gefüllt an einem Seil über den Kindern hängt, ist der Inbegriff für eine Fiesta. Unserer Nieves Paulina ist ihre Piñata momentan reichlich egal. Seit zwei Wochen kann sie allein gehen, sie ist zu klein, um mit einem Stock auf die Piñata einzuschlagen, bis sie zerbricht und es Zuckerl, Schokoladen und Schlecker regnet. Das erledigen dann die Schwester und unzähligen Cousins und Cousinen zweiten Grades. Am Samstag wird es also eine Piñata geben, und die Familiengeschichte wird wieder einen Angelpunkt mehr haben, "damals beim Geburtstag von Nieves Paulina" , Guatemala wird für ein paar Stunden in Ordnung sein.

"Guatemala setzt Todesstrafe wieder ein. [...] Guatemala gehört zu den Ländern mit der höchsten Mordrate Lateinamerikas." Eine Schlagzeile, die zuschlägt, schmerzhaft, angstmachend, und wahr. Guatemala hatte es Anfang des Jahres in die oberste Liga der österreichischen News geschafft: Ein Land, 10.000 Kilometer weit weg, scheint in einem Klima der Rechtlosigkeit und überbordender Delinquenz zu ersticken, Menschen suchen verzweifelt nach einem Ausweg aus der Gewalt, vor der niemand, wirklich niemand gefeit ist. Die Todesstrafe wirkt wie eine Lösung, zur Abschreckung und um ein für alle Mal, "Schluss zu machen mit diesem Abschaum" , mit den jungen Männern etwa, die in einer Woche elf Busfahrer in der Hauptstadt Ciudad de Guatemala brutal ermordet haben.

Stecken Jugendbanden, steckt das organisierte Verbrechen dahinter? Sollte durch diese Gewaltwelle die neue Regierung destabilisiert werden? Es ist sehr unwahrscheinlich, jemals Antworten zu bekommen: Impunidad nennt sich diese Realität, Straflosigkeit. Verbrechen werden nicht aufgeklärt, nicht vor Gericht verhandelt, die Verantwortlichen niemals zur Rechenschaft gezogen. Mit der Ermordung der Busfahrer beschäftigt sich eine eigene Kommission gegen die Straflosigkeit, CICIG, die Comisión Internacional contra la Impunidad en Guatemala, die davon ausgeht, dass es sich nicht um isolierte Einzelfälle gehandelt hat. Ein Menschenleben ist hier nicht viel wert. Zu schnell wird geschossen oder zugestochen, täglich gibt es 200 Überfälle auf städtische Busse, allein 2007 wurden 43 Busfahrer umgebracht.

Mit Nieves Paulina waren wir einen Tag in den öffentlichen Bussen in Guatemala-Stadt unterwegs. Naiv, nicht glauben wollend, dass weiße Hautfarbe, blaue Augen und helle Haare uns sofort als Ausländer identifizieren, als Gringos mit Geld. Gracias a Díos ist uns nichts passiert, wir wurden nur finster angestarrt, in den stinkenden Camionetas in den verstopften Straßen. In einen Bus sind wir danach nicht mehr gestiegen. Und am Samstag wird es also eine Piñata geben, hier in Cobán im Landesinneren. Hier werden wir bei jedem Schritt darauf angesprochen, welch unglaublich schöne Augen Nieves Paulina hat, groß und blau. Groß und blau wird auch die Piñata sein, in Form von Disneys Cinderella. In Guatemala mag ein Menschen-leben nicht viel wert sein, gleichzeitig wissen die Guatemalteken aber auch, schon ein kleines Kind gebührend hochleben zu lassen.

Magisches Land

"Guatemala ist ein magisches Land, Guatemala ist 108.000 Quadratkilometer groß, und zu uns gehören 23 Bevölkerungsgruppen, 23 Kulturen und 23 verschiedene Vorstellungen über das Land. Es ist ein großartiges Land mit einem riesigen Potenzial, sei es im Bereich der Landwirtschaft, des Tourismus, der Industrie, des Handwerks, oder der Kunst." Der neue Präsident Álvaro Colom Caballeros hatte mit seiner Antrittsrede am 14. Jänner 2008 die Herzen bewegt und einen Hauch von Hoffnung gebracht.

"Ein hungriges Volk wird niemals ein friedfertiges Volk sein, ein Volk, das keine Möglichkeit hat, sich wirtschaftlich zu verbessern, wird kaum sozialen Frieden erlangen." Der Einheit des Landes wollte er sich annehmen, "jetzt, wo in Lateinamerika und dem ganzen Kontinent neue Winde wehen". Schwierig in einem Land, wo der Bürgerkrieg 250.000 Opfer gefordert hat, "wo die Wunden noch bluten und Intoleranz, Ungleichheit, Diskriminierung, das Fehlen von Solidarität ausgebessert werden müssen."

Sympathisch, ehrlich und aufrichtig hat er gewirkt, dieser Mann, der um 4.00 Uhr morgens zu arbeiten beginnt, der verkündete, dass die Rollen der Frau, der Kinder und der Jugend geändert werden und der Umweltschutz Staatsaufgabe sein müsse. "Wir können es schaffen, wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen."

Der neue Präsident hatte am Tag des Amtsantritts nicht mit Champagner angestoßen, sondern mit Atol de elote, einem traditionellen Maisgetränk, und erstmals in der Geschichte des Landes wurde der Nationale Rat der Indigenen Be-völkerung zur Feier eingeladen. Details, die große Beachtung fanden.

An diese anfängliche Hoffnung kann sich nun kaum jemand mehr erinnern. Die Todesstrafe wird zwar weiter nicht vollzogen, da Colom aufgrund von internationalem Druck sein Veto einlegte. Das erste Halbjahr seiner Regierung brachte aber bereits den ersten Korruptionsskandal im Kongress mit Rücktritt des Kongresspräsidenten Eduardo Meyer, eine halbgare Steuerreform, die viele Institutionen kaum arbeiten lässt, und ganz aktuell einen Spionageskandal um das Staatsoberhaupt, der zeigt, welche Macht das organisierte Verbrechen hat.

Den Kindern sollte der Präsident gefallen, weil er eingeführt hat, dass man nun wieder mit einem "Genügend" in die nächste Schulstufe aufsteigen kann. Aber eigentlich ist das egal, können viele Kinder doch gar nicht in die Schule gehen. Kinderarbeit ist an der Tagesordnung. Die Buben und Mädchen wissen, wie sie mit einer Hacke am Feld arbeiten oder wie sie Bananen auf der Straße verkaufen, aber sie haben keine Ahnung, wie man "azadón" , das spanische Wort für Hacke, schreibt. Die Analphabetenrate liegt bei dreißig Prozent. Es wäre so schön gewesen, wenn der Hauch von Hoffnung nicht verlorengegangen wäre. Für die Erzählungen später, "Kannst du dich erinnern, damals bei der Piñata von Nieves Paulina? Da war's dann mit den schweren Zeiten vorbei!" (Elisabeth Schaffelhofer-Garcia Marquez/DER STANDARD, Printausgabe, 13./14.9.2008)