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Santa Cruz, September 09: Straßenverkäuferin vor einem "Evo Mörder" -Graffito.

Foto: AP/Dado Galdieri

Rückblende: "Ein Sieg für die Demokratie" , kommentierte die Tageszeitung La Razón erleichtert den friedlichen Verlauf des Misstrauensreferendums vom 10. August, bei dem der bolivianische Präsident und sein Vizepräsident wurden mit gut zwei Drittel der Stimmen eindrucksvoll bestätigt wurden. Die Opposition hat insgesamt an Gewicht eingebüßt, doch das Votum war paradox. Auch die oppositionellen Präfekten der Tieflanddepartments bekamen satte Mehrheiten und sehen nur ihren eigenen Sieg.

Dass eine landesweite Zustimmung höher einzuschätzen ist als eine auf Department-Ebene, ficht die Präfekten nicht an. Sie setzen auf "Autonomie" im Sinne einer Loslösung von La Paz und geben Gas, um noch vor dem 12. Dezember - dem Abstimmungstermin über den neuen Verfassungsentwurf, an dessen mehrheitlicher Annahme nach dem Ergebnis vom 10. August kaum zu zweifeln ist - vollendete Tatsachen zu schaffen, Ein nach dem Referendum einberufener Dialog endete bereits nach einer Nacht ergebnislos.

Die überwältigende Zustimmung für Evo Morales darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kritik an seiner Regierung lauter wird, auch von indigenistischer Seite und aus Richtung der traditionellen Linken: Eine Verbesserung der sozialen Lage, Strukturveränderungen überhaupt, seien ausgeblieben, das bisschen würde von der Inflation aufgefressen; die Öl- und Gasgeschäfte würden weiterhin von den ausländischen Konzernen gemanagt; die Arbeitslosigkeit sei so hoch wie eh und je, die öffentliche Sicherheit in den Städten so schlecht wie nie; Korruption und Klientelismus feierten auch in der Regierung Morales fröhliche Urständ; der sprichwörtliche bolivianische Präsidentialismus sei unter Morales ungebrochen ("Evismo" ); Regierung und Partei seien undemokratisch und nur noch am Machterhalt interessiert.

Manches mag übertrieben sein und ungerecht - da sprechen auch zu kurz gekommene Möchtegern-Caudillos. Aber dass es diese Kritik gibt, ist schon Indiz genug, dass es nur in bescheidenem Maße gelungen ist, das hochgesteckte Ziel zu erreichen, nämlich eine Regierung der sozialen Bewegungen zu sein. Das ist zum Teil natürlich auch ein Kompetenzproblem, was zu teilweise rassistisch unterlegten Angriffen und dummen Verschwörungstheorien gegen den (weißen und intellektuellen) Vizepräsidenten geführt hat. Auch Morales' "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) hat es nicht vermocht, formalisierte Strukturen der Interessenaggregation und -artikulation von unten zu schaffen oder eine Partei im klassischen Sinn zu werden. Dass der Gewerkschaftsbund COB und die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB kurz vor dem Referendum dazu aufriefen, Morales abzuwählen, ist ein Alarmsignal, sowohl für Regierung und MAS als auch für den Zustand der Gewerkschaften. Waren/sind sich ihre Führer nicht im Klaren, was auf dem Spiel steht?

Seit der umstrittenen Verabschiedung des Verfassungsentwurfes im Dezember 2007 herrschen Polarisierung und Dauerwahlkampf: die Referenden über die Autonomiestatuten der Departments, die Abwahlreferenden, es folgt in Kürze das Referendum über den Verfassungsentwurf. Morales fährt landauf, landab, weiht Straßen ein und Schulen, Gesundheitsposten und Brücken, verteilt Traktoren, Wahlkampfgeschenke aus Caracas. Doch wo bleiben die großen Würfe? - Zugleich wird die Menschenrechtssituation wird immer kritischer, in Sucre wurde der MAS-Präfekt ins peruanische Exil vertrieben. Vor allem dort und in Santa Cruz kommt es immer wieder zu Übergriffen gegen (vermeintliche) Regierungsanhänger. Der Staat ist abwesend, niemand wird zur Rechenschaft gezogen - auch nicht für Übergriffe von MAS-Anhängern gegen Oppositionelle.

Strategie oder Unvermögen?

Die Reaktion der Regierung auf Provokationen und offene Rechtsbrüche der Opposition war allzu oft Passivität. Stoischer Gleichmut - Strategie oder Unvermögen? - ist die Antwort, wenn regierungsnahe Bauern und selbst die Armee als Institution gedemütigt werden, wenn der Präsident zur Persona non grata erklärt wird. Wie lange kann und will sich eine Regierung das bieten lassen, ohne dass die Institutionen Schaden nehmen?

Seither gibt es Straßenblockaden in Tarija, Santa Cruz und im Beni, eine erste Ölquelle wurde besetzt und fast täglich werden, Regierungsbehörden wie Zoll, Grenzstationen und Flughäfen zu besetzen sowie Bombenattentate auf die Häuser von "Autonomiekritikern" . Das Tiefland scheint jeden Tag mehr einem Bürgerkrieg entgegenzutaumeln.

Und die Haltung des Auslands? Bolivien ist auf Gedeih und Verderb von ausländischer Entwicklungshilfe abhängig. In der Vergangenheit hatten nicht wenige Akteure mit den Prefecturas zusammengearbeitet - manche sogar bevorzugt: der Zuständigkeit wegen und um laufende Programme weiter zu führen, um einen wünschenswerten Prozess der Dezentralisierung zu fördern oder um im demokratischen Spiel der Kräfte den Pluralismus zu stärken, wie sie es nannten. Nach den Ereignissen der letzten Wochen und Monate kann sich jedoch niemand mehr Illusionen machen. Jede Kooperation muss sich streng im Rahmen der Respektierung von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten bewegen. Auch wenn sie - wie die Präfekten selbst - durchaus demokratische Legitimität genießen (was wiederum der Regierung zu denken geben sollte): Mit politischen Abenteurern, denen jedes Mittel recht ist, um ihre Privilegien zu sichern, darf es keine Zusammenarbeit geben!

Und auch jene sollten sich keine Illusionen machen, die Morales' Ablöse betreiben. Wenn die Bedrohung ihrer Privilegien erst einmal abgewendet ist, werden die Tieflandeliten und ihr "Halbmond" in ein Grüppchen konkurrierender Möchtegern-Präsidenten unter Führung des heute bereits selbsternannten Gobernadors von Santa Cruz zerfallen, der landesweit keinen Blumentopf gewinnen kann. (Robert Lessmann/DER STANDARD, Printausgabe, 15.9.2008)