Die elfjährige Melisa lebt gemeinsam mit rund 190 Menschen aus 15 Nationen in einem betreuten Wohnheim für Flüchtlinge in Wien. Melisa ist Tochter einer Ukrainerin und eines Sudanesen. Im Gespräch mit ihrer Lernbetreuerin Linda Thornton erzählt sie über ihren Freundeskreis, ihr Lebensgefühl in Wien und ihre Erfahrungen mit Rassismus.
* * *
Thornton: Erzähl mir ein bisschen von dir: Wie alt bist du, woher kommst du und seit wann lebst du in Österreich?
Melisa: Ich bin elf und komme aus der Ukraine. Seit fünf Jahren bin ich hier. Meine Mutter
und meine kleine Schwester waren noch in der Ukraine, mein Vater hat mich
dann abgeholt - die Leute in der Ukraine mögen keine dunklen Menschen.
Ich war eine Zeit lang bei ihm im Sudan, bevor wir uns alle wieder in Wien getroffen
haben. Als wir einmal mit dem Bus gefahren sind, sagte eine russische
Dame: "Steh auf du Neger", und wir mussten uns einen anderen Platz suchen.
Thornton: Hast du viele Freunde in der Schule und im Haus, in dem du lebst?
Melisa: Also im Wohnhaus nicht, aber in der Schule viele. Es ist nur hier (im Haus,
Anm.) so schlimm, weil hier sind so viele Kinder und meine Geschwister und
ich sind die einzigen, die braun sind. Nur diese Afghanistan-Mädchen, die sind
meine Freundinnen, die anderen beschimpfen uns oft, wenn wir sie sehen. Das
nervt mich und ich möchte sie hauen, so fest ich kann. Ich halte das nicht aus.
Thornton: Aus welchen Ländern kommen die Kinder in deinem Freundeskreis?
Melisa: Ein paar sind aus Wien, ein paar kommen aus der Türkei und aus Polen.
Thornton: Deine Mutter kommt aus der Ukraine, dein Vater aus dem Sudan, jetzt
bist du in Österreich: fühlst du dich hier zu Hause - oder glaubst du, dass
dein Platz woanders ist?
Melisa: Ich glaube, woanders.
Thornton:
Wo?
Melisa: Naja, ich fühl‘ mich hier nicht wohl, weil hier sind so viele Menschen weiß
… ich will zurück, irgendwohin, wo es normal ist.
Thornton: Dorthin zurück, wo du schon warst oder ganz woanders hin?
Melisa: Ganz woanders.
Thornton: Denkst du manchmal, dass die Österreicher nicht wollen, dass du hier bist?
Melisa: Nein.
Thornton:
Das ist gut. Aber wer sind die Leute, die dir mit Rassismus begegnen?
Melisa: Das sind Kinder, Erwachsene, ein paar alte Omas und Opas.
Thornton: Wie sehen die rassistischen Übergriffe aus? Sind das Beschimpfungen,
körperliche Gewalt, versuchen diese Menschen auch, andere gegen dich
aufzuhetzen?
Melisa:
Ja, es tun sich oft mehrere zusammen und sie wollen mich dann schlagen
und lachen über meine Farbe. Sie sagen auch sehr viele gemeine Dinge.
Thornton:
Wie reagierst du darauf? Wehrst du dich?
Melisa: Manchmal sag‘ ich was und manchmal sag‘ ich nix. Ich
schimpf‘ zurück und ich hau‘ zurück.
Thornton: Glaubst du manchmal das, was sie sagen?
Melisa: (zögert): Ein bisschen schon, ich bin mir manchmal unsicher.
Thornton: Bei wem oder wie suchst du Trost?
Melisa: Bei meinen Freundinnen und meiner Lehrerin.
Thornton: Wenn jemand unfair zu dir ist und nicht direkt sagt, dass
es mit deiner Hautfarbe zu tun hat, denkst du dann manchmal,
dass es deswegen ist?
Melisa: Ja.
Thornton: Hast du oft Angst, dass dich jemand attackieren wird, wenn
du unter Menschen bist?
Melisa: Ja. Zum Beispiel am Wochenende hat mein Papa meine Haare gebürstet
und dann hat er gesagt: "Komm, wir gehen einkaufen, lass
deine Haare offen", und ich hab nein gesagt und geweint und
dann bin ich in mein Zimmer gegangen. Als er weg war, hab‘ ich
sie gleich wieder zugemacht. Ich will das nicht, ich weiß, dass
mich dann alle auslachen und sagen: "Schau ihre Haare an!"
Thornton: Glaubst du, du wärst beliebter, wenn du weiß wärst?
Melisa: Nein. Ich glaub‘ aber nicht, dass ich schön bin. Ich will wie die
anderen Wiener sein. Ich will auch blonde Haare haben, ich will
nicht diese Haare haben, ich will glatte. Wie zum Beispiel die
Sarah*, die hat blonde Haare, blaue Augen – ich hab‘ schwarze
und ich hasse schwarz. Und ich mag meine Haare nicht. Sie
kräuseln sich so, wenn ich sie aufmache – bam. Ich hasse das.
Ich hab‘ mir überlegt, wenn ich groß bin schneid‘ ich sie ab.
Thornton: In der Schule hat man es schwer, wenn man "anders" ist.
Ganz ehrlich: ärgerst du selbst auch andere die z. B. dick
sind, aus einem anderen Land kommen oder eine andere
Religion haben?
Melisa: Überhaupt nicht. Ich bin das liebste Mädchen von der Schule!
Thornton: Hast du schon mal gedacht, dass jemand dein Freund ist, der
dich dann aber auch wegen deiner Hautfarbe geärgert hat?
Melisa: Ja, schon. Da war ich sehr traurig. Ich hab‘ nicht erwartet, dass ein
Freund oder eine Freundin von mir so etwas macht. In der zweiten
Klasse habe ich eine meiner besten Freundinnen einmal beim
Donaufest gesehen, sie war mit so "Hiphop-Kindern" zusammen.
Wir hatten einen Streit, ich weiß nicht mehr, worum es ging, und
da hat sie angefangen mich zu beschimpfen. Sie hat gesagt: "Du
Neger! Du hast gar nichts zu sagen, ich bin weißer als du, du bist ein
Neger!" Und das hat mich traurig gemacht. In der Schule hab‘ ich
drei Wochen nicht mit ihr geredet. Dann hab‘ ich mit der Lehrerin
gesprochen und auch mit ihr und wir haben uns wieder versöhnt
und sind wieder gute Freunde. Seitdem hat sie mich nicht mehr beschimpft,
aber damals war das vor einigen Kindern, die ich kenne.
Thornton: Du hast zwei Geschwister, die auch zur Schule gehen.
Sprichst du mit ihnen über Rassismus?
Melisa: Ja, wir erzählen es einander schon, wenn etwas vorgefallen
ist und trösten uns gegenseitig.
Thornton: Und deine Eltern? Was sagen sie dazu?
Melisa: Sie sagen, ich soll nicht zuhören und weitergehen.
Thornton:
Wie reagieren andere, wenn sie mitbekommen, dass du attackiert
wirst? Helfen sie dir? Verteidigen sie dich?
Melisa: Ja, sie helfen mir.
Thornton: Und deine Lehrer?
Melisa: Ja, die auch. Oft gehen meine Freunde zu meiner Lehrerin
und sie hilft mir dann. Es ist auch schon vorgekommen, dass
sie deswegen mit einem Kind zum Direktor gegangen ist.
Thornton: Haben deine Lehrer das Thema Rassismus schon einmal
mit der ganzen Klasse besprochen oder habt ihr schon mal
eine Projektwoche gemacht?
Melisa: Ja, auch eine Projektwoche. Wir haben über Afrika geredet und
die Lehrerin hat uns erzählt, wie schwer es die Afrikaner in
Wien haben. Wir spenden auch gemeinsam für ein Mädchen.
Thornton: Aber ich meine eigentlich nicht Afrika, sondern Rassismus
und all diese Gemeinheiten.
Melisa: Ja, ich kann mich schon erinnern. In zwei Stunden war das.
Über Afrika auch und über Menschen allgemein.
Thornton:
Hast du das Gefühl, dass du dich besonders bemühen
musst, um gemocht zu werden?
Melisa: Ja.
Thornton: Wenn dir die Leute die dich ärgern, einmal wirklich aufmerksam
zuhören würden, was würdest du ihnen sagen?
Melisa (denkt nach): Ich würde sagen: "Ich will wieder nach Hause, weil
das macht mich so traurig. Lass mich jetzt bitte in Ruhe."
Thornton:
Das sind schon alle meine Fragen. Möchtest du mir noch
etwas von dir aus erzählen?
Melisa: Weißt du, wovor ich Angst habe? Wenn ich einmal groß bin
und keine Eltern mehr habe, dann bin ich ganz alleine mit
meiner Schwester und dann kann jemand über mich lachen
und mich vielleicht hauen oder irgendwas machen. Ich bin
froh, dass ich noch klein bin und noch meine Eltern habe.
Thornton: Wenn du keine Angst haben willst, musst du lernen, dich
selbst zu mögen.
Melisa: Wie? Wie kann ich mich mögen? Zum Beispiel ein Mädchen
vom Wohnhaus hat gesagt, ich bin hässlich und das stimmt
auch. Meine Haare sind schiach, meine Augen und mein ganzer
Körper. Wenn ich groß bin und so hässlich aussehe, dann
krieg ich keinen Mann. Ich will eigentlich auch keine Kinder
haben. Weil die werden dann so ähnlich (wie ich), mit diesen
Haaren, und werden beschimpft, dann will ich lieber keine.
Wenn ich weiß wie meine Mama wäre, hätte ich schon gern
Kinder, aber mit meiner Hautfarbe will ich keine. Zu mir
haben die Kinder gesagt: "Na Melisa, du brauchst keine Babies
kriegen, weil dein Kind wird sooo schiach, das wird so
schwarz wie du!"
Thornton: Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass die Menschen das
zu dir sagen, ist wirklich sehr böse. Aber wenn du selbst
auch so denkst, ist das noch viel schlimmer. Denn das
heißt, dass du denkst, es sollte Menschen wie dich gar nicht
geben. Und das ist besonders übel.
Melisa: Wieso?
Thornton:
Wieso soll es nicht solche Leute geben wie dich oder wie mich?
Melisa überlegt.
Thornton: Denkst du auch, dass andere Leute, die schwarz sind, keine
Kinder kriegen sollen?
Melisa schüttelt den Kopf.
Thornton:
Ja, aber wieso denkst du so über dich selbst?
Melisa: Weil… (seufzt) weil… Die werden schiach sein. Also, schiach
wie ich jetzt bin. Sie werden ausgelacht und das will ich nicht.
(Ich wiederhole noch einmal, dass rassistische Handlungen
auf unfaire Weise zur Stärkung des Ausübenden dienen.
Wenn das Opfer die Rechtfertigungen akzeptiert, wird die
Ungleichheit Realität.)
Melisa: Ich glaube ich werde das versteh‘n wenn ich groß bin.
(derStandard.at, 21.9.2008)
* alle Namen redaktionell geändert, Anm.