"Das Selbstanrühren von Programm wird eine Sättigung erreichen" - Gottfried Langenstein über Web-TV.

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STANDARD: Was ist denn eigentlich öffentlich-rechtlich?

Langenstein: Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten wir keine zentrale Kontrolle der Regierung mehr über die Medien, wir wollten freie Information, die jedem Bürger zur Verfügung steht. Wir wollten auch Pluralismus, d.h. dass alle Stimmen zu Wort kommen. Heute im Internetzeitalter spielt der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine ganz andere Rolle. Zeitungen und Rundfunkgesellschaften werden Zug um Zug von globalen Investoren aufgekauft. Nur öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gewährleisten auf lange Sicht den Spiegel unserer Kultur. Wir haben nicht den Schutz der Amerikaner, die ausländischen Investoren verbieten, mehr als 20 Prozent an ihren Fernsehgesellschaften zu besitzen. In Europa sind die Tore offen, wir spielen freien Wettbewerb. Insofern werden wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk brauchen, um die Qualität der Diskussion in der Gesellschaft zu erhalten.

STANDARD:  Identität als Argument ist so eine Sache: Wahrscheinlich bringt nationaler Content bis zu einem gewissen Grad Erfolg, also ist er ökonomisch sinnvoll.

Langenstein: Aber als Finanzinvestoren ProSiebenSat.1 übernommen haben, wurden binnen drei Wochen 200 Nachrichtenredakteure samt ihrem Chef gefeuert. Und das Unternehmen wurde mit drei Milliarden Euro Schulden belastet, unter dem es ächzt und kaum neues Programm produzieren kann.

STANDARD:  Klassisch öffentlich-rechtliche Funktionen wie Information, Dokumentationen, klassische Musik übernehmen in der digitalen Welt zunehmend Spartenprogramme - auch private. Auch das stellt ARD, ZDF und ORF infrage.

Langenstein: Von ProSiebenSat.1 hatte sich ein Teil der deutschen Politik sehr viel erhofft. Die erwartete Qualität hat sich dort nicht eingestellt. Als die ausländischen Investoren kamen, ging sie weiter zurück. Der alte Leo Kirch hat noch in Musik und Kultur investiert. Welcher Finanzinvestor wird noch Opern übertragen? Sie haben es im Prinzip mit einer Internationalisierung der Eigentümer zu tun, und die Frage stellt sich: Wer produziert noch deutsche oder österreichische Dokumentarspiele, wer beschäftigt die Schauspieler, wer fördert junge Autoren? Welches europäische Kino ist noch lebensfähig? Wenn Rupert Murdoch "Premiere" besitzt, wird er auf Filme setzen, die er international abspielen kann.

STANDARD:  "Premiere" hat sich schon bisher nicht durch Eigenproduktionen hervorgetan - im Gegensatz zum US-Pendant HBO.

Langenstein: Sehr, sehr überschaubar, stimmt. Es geht eher um die Frage: Wie erhalten wir unsere Talente. Tom Tykwer, Henckel-Donnersmarck haben auf den kleinen Kanälen angefangen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird immer stärker die Rolle haben zur Pflege einer lebendigen geistigen und kreativen Welt in unseren eigenen Bereichen.

STANDARD:  Öffentlich-rechtlichen Sendern wirft man zunehmend zu, ihre Programme würden immer verwechselbarer mit Privaten; insbesondere der ORF, insbesondere ORF 1.

Langenstein: Bei kleineren Kanälen wie Arte und 3sat haben wir die Chance, mitunter sehr ausgerissene, ungewöhnliche Sachen für ein schmaleres Publikum zu machen, die aber insgesamt ein Stück notwendige Avantgarde für den Diskurs der Gesellschaft darstellen. Die großen Kanäle, ARD, ZDF, ORF, SRG, haben das Problem, sie müssen auf ihre Reichweite für die breite Gesellschaft achten. Deswegen brauchen Sie Sport und große Shows, um breites Publikum zu gewinnen für schwierige Dokumentationen, wichtige Nachrichtensendungen, für tieferes, analytisches Fernsehen. Sie müssen ein ganz anderes Klavier spielen, als ich es mit Arte darf. Sie müssen mit erwartbaren Sendeplätzen im Schema arbeiten. Ich arbeite immer mehr mit Programmschwerpunkten, ganzen Programmtagen.

STANDARD:  Was spricht dagegen, einen solchen Thementag im ZDF zu machen?

Langenstein: Das müsste man sich mal trauen, "heute" oder "ZiB 2" auf Latein wie wir zuletzt die „Kulturzeit" in 3sat an unserem Rom-Tag.

STANDARD: Der ORF versucht immerhin Themenwochen.

Langenstein: Gute Eventprogrammierung wird in Zukunft immer wichtiger, um die Aufmerksamkeit zu steigern. In einer anderen medialen Umgebung mit viel mehr Ablenkung muss man anders handeln.

STANDARD: Wenn man alle öffentlich-rechtlichen Funktionen in Spartenkanäle auslagert - wozu dann noch öffentlich-rechtliche Hauptprogramme?

Langenstein: Die Frage geht an der Sache vorbei. Das Hauptprogramm muss mit gelernten Programmstrukturen und großen Ereignissen wie Sport breites Publikum binden und so das Publikum in das Haus hereinführen. Dahinter liegen die Spartenkanäle und Partnerprogramme wie 3sat oder ARTE, wo ich durch geschicktes Packaging Zuschauer gewinnen kann. ARD, ZDF und ORF hingegen müssen die Gesellschaft in der Breite abholen und zu wichtigen Dingen führen. Wenn wir diese Breite verlieren, verlieren wir im Prinzip die Beteiligung der Gesellschaft an der politischen Diskussion. Schauen Sie sich Amerika an. Präsidenten werden mit knapp 50% Wahlbeteiligung gewählt, d.h. der Sieger stützt sich nur auf 30, 32 Prozent der Bevölkerung.. Diese Wahlbeteiligungen will ich in Europa nicht haben. Ich möchte, dass 70, 80 Prozent der Gesellschaft sich wirklich entscheiden, was sie politisch wollen, und dass wir in der Gesellschaft auch einen lebendigen Diskurs darüber erhalten, und das geht wesentlich mehr über den öffentlichen Rundfunk als über den privaten.

Weiter: Langenstein zum EU-Wettbewerbsverfahren gegen den ORF, Google, Programmdownloads und Video on Demand.

STANDARD:  Österreich steht gerade mitten in seinem Wettbewerbsverfahren vor der EU. Deutschland hat seines schon hinter sich. Der Kompromiss mit der EU führte insbesondere zu den geplanten neuen Regelungen für Onlinedienste von ARD und ZDF, die sehr restriktiv ausfallen.

Langenstein: Die Presseverlage spüren einen erheblichen Wettbewerbsdruck. Der kommt aber mitnichten von den Öffentlich-Rechtlichen. Die Angebote von ARD und ZDF im Internet haben vielleicht eine Präsenz von zwei oder drei Prozent. Das tut den Privaten nicht weh...

STANDARD:  Der Vollständigkeit halber: Der ORF ist in Österreich mit großem Abstand Marktführer unter Medienplattformen im Internet.

Langenstein: Was den Medien, insbesondere den Verlagen, weh tun wird, ist lokalisierbare Werbung über die IP-Adresse im Internet. Das hat Google patentiert. Google mit seinen Suchmaschinen ist hier längst in einer dominanten Position. Mit einem Blick über Google Maps auf Ihr Haus haben Sie schlagartig auch die lokalisierte Werbung der Pizzeria in der Nachbarschaft. Das war das klassische Geschäft der regionalen Zeitungen.

STANDARD:  In den USA liegt Google in praktisch allen Ballungsräumen vor den Regionalverlagen.

Langenstein: Die verlieren massiv. Dieses Geld wird hier aus dem Markt gezogen und landet in Seattle, in Los Angeles. Da entsteht zurecht Nervosität.

STANDARD:  Der geplante Rundfunkstaatsvertrag sieht vor, dass öffentlich-rechtliche Anstalten ihre Programme nur sieben Tage nach der Ausstrahlung zum Abruf anbieten dürfen. Kontaktbörsen, Ratgeberportale und dergleichen sollen ihnen verboten sein.

Langenstein: Ich habe überhaupt kein Problem, auf Kontaktbörsen zu verzichten, das kann gern jemand anderer machen.

STANDARD:  Der ORF hatte da gerade ein Konzept.

Langenstein: Ich brauche das nicht. Aber: Wenn wir wertvolle Inhalte produzieren, und die einen wichtigen Hintergrund für die gesamte Wissens- und Bildungslandschaft darstellen, dann müssen wir sie länger anbieten können. Welchen Sinn ergibt es, wenn wir beispielsweise eine große Dokumentation zum Jubiläum von Max Planck machen, die Quantentheorie erklären und bildlich darstellen, und nach sieben Tagen mache ich dieses Wissensangebot zu. Wieso dient das der Gesellschaft, wenn ich das mit öffentlichen Mitteln produzierte Bildungsgut nach sieben Tagen wegsperren muss. Das halte ich strategisch für die Entwicklung der Gesellschaft für einen Irrweg. Im ganzen Bereich Kultur, Wissen, Bildung, Dokumentationen kann es keine Sieben-Tage-Regelung geben. Sonst macht die Politik einen Fehler. Keinen Fehler gegenüber den Rundfunkanstalten, einen gesellschaftlicher Fehler. Wir leben langfristig in unseren Gesellschaften weder von den Rohstoffen noch von günstigen Arbeitskräften, sondern von der Ingeniosität, dem Erfindungsreichtum. Die jungen Leute müssen da herangeführt werden, also müssen Wissensinhalte frei bleiben. Ich stelle fest, dass die jungen Leute unter 30 völlig anders fernsehen als wir - eben über Downloads.

STANDARD:  Sie bieten längst schon Programmdownloads an - ohne rechtliche Basis?

Langenstein: Wir haben da eine absurde Situation: Wir haben in Deutschland noch keine positive Haltung zu Video on Demand und zu einem vitalen Auftritt im Internet. Dort sind einige Länder und Lobbygruppen dagegen. In Frankreich hingegen sind Medienbehörde, Regierung, Parlament der Auffassung, man müsse viel für das Kultur- und Medieninteresse der Jugend tun. Die fordern uns zu starken Aktivitäten im Internet auf, Blogs, Video on Demand. Die französische Regierung schiebt Arte an, und in Deutschland hab ich die Bremsschuhe angelegt. Eine sehr merkwürdige Erfahrung, nicht unbedingt europäisch einheitlich.

STANDARD:  Aber man kann doch Arte-Inhalte auch deutschsprachig abrufen.

Langenstein: Sicher. Wir sitzen in Straßburg und haben einen völkerrechtlichen Vertrag. Aber der kostenpflichtige Abruf wie bei uns ist, glaube ich, nicht das Interessante. Interessant ist, Inhalte längerfristig und mehr als sieben Tage in einer Mediathek kostenlos anzubieten. Anders wird es gar nicht gehen. Die Leute werden immer unsicherer, ihre Kontodaten im Internet anzugeben.

STANDARD:  Können Sie mir ein Gefühl für die Größenordnungen der Abrufe bei Arte geben? Beim ORF sind die Zugriffe - jedenfalls für mich - überraschend niedrig.

Langenstein: Das reicht von 2000 bis 3000 Abrufen hinauf bis 200.000 bis 300.000 bei kostenfreien ARTE + 7 Angeboten und bewegt sich unter 10.000 bei kostenpflichtigen.

STANDARD:  Womit schafft man solche Spitzen?

Langenstein: Absoluter Spitzenreiter bei VOD war „Darwin's Nightmare", bei ARTE + 7 Angeboten auch Dokumentationen wie die über Monsanto.

STANDARD:  Ein österreichischer Regisseur. Für zwei bis fünf Euro durchaus erschwinglich.

Langenstein: Wir verlangen nur das Notwendige und teilen mit den Produzenten. Das soll kein Geschäft werden. Es soll ein Versuch sein, die Sachen zu präsentieren.

Weiter: TV-Gebühren, Werbung bei öffentlich-rechtlichen Sendern und was Langenstein beruflich noch reizen würde

STANDARD:  Bis auf Sponsoring sind Sie rein gebührenfinanziert. In Deutschland wird gerade debattiert, ob man den öffentlich-rechtlichen Werbung ganz untersagen soll. Würde das die Position von öffentlich-rechtlichen Sendern nicht erleichtern, sich klar auf Anspruchsvolles zu fokussieren und sich weniger breit Privatprogrammen anzunähern.

Langenstein: Ich frage mich, ob wir da den Privaten noch soviel wegnehmen. Vielleicht 500 Millionen Euro für ARD und ZDF gemeinsam bei einem Werbemarkt von 8,7 Milliarden sind keine bedrohliche Dimension mehr.

STANDARD:  Im Vorabendprogramm merkt man die Werbung schon.

Langenstein: Da merkt man sie, ja. Wer ARD und ZDF Werbung nimmt, muss ihnen aber 1,50 Euro mehr an Gebühren geben. Das ist in Deutschland derzeit angesichts der Teuerung nicht vermittelbar. Aber es ist keine Überlebens- oder Sterbensfrage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, ob wir noch Werbung haben oder nicht. In Deutschland sind wir sind längst bei Anteilen von 5,6 Prozent Werbung am Gesamtbudget.

STANDARD:  Das ist in Österreich deutlich anders.

Langenstein: In Österreich ist die Situation vollkommen anders. Ihr könnt nicht soviel Gebühren aus dem kleineren Markt, der kleineren Bevölkerung ziehen. Und wenn man einen Werbeanteil von 40 Prozent am Budget hat, befindet man sich in einer ganz anderen Situation. Insofern ist das in Österreich nicht umsetzbar: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man die Rundfunkgebühr verdoppelt.

STANDARD:  Man könnte Rundfunk ja wie manche andere Länder aus Staatsmitteln finanzieren.

Langenstein: Die Gebühr hat in Deutschland einen wichtigen politisch-historischen Hintergrund: Die Staatsferne des Rundfunks. Die Gebühr wird direkt von den Sendern vereinnahmt. Die Gebühr ist ein Garant für die Unabhängigkeit des Rundfunks. Wenn Sie jedes Jahr mit der Regierung über den Haushalt verhandeln müssen, sind Sie journalistisch völlig anders beeinflusst, als wenn Sie die Gebühr unabhängig davon erhalten. Ein Stück unabhängige vierte Gewalt tut der Gesellschaft schon gut.

STANDARD:  Jenes ORF-Gremium, das die Höhe der Gebühren festsetzt, ist politisch besetzt - und alles andere als staats- oder politikfern.

Langenstein: Die österreichische Situation ist noch einmal anders, weil auch der Personenkreis kleiner ist. In Deutschland ist die KEF, die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, mit einer Reihe von unabhängigen Experten besetzt, die in durchaus strengen Diskussionen mit uns intensiv prüfen, welche Mittel wir wofür ausgeben.

STANDARD: Eine solche Institution gibt es in Österreich jedenfalls bisher nicht. Macht Video auf Abruf das klassische Fernsehen auf Sicht obsolet?

Langenstein: Ich glaube nicht, dass das passiert. Das Selbst-Anrühren von Programm wird irgendwann eine Sättigung erreichen. Nicholas Negroponte sagt, 60 bis 70 Prozent sind einfach Couch Potatoes. Das geht mir übrigens selbst so. Ich werfe keinen Blick auf die Fernsehseite, ich zappe einfach, wo mich was anspricht. Diese Schaufensterfunktion des Fernsehens wird bei 60, 70 Prozent der Bevölkerung bleiben. Aber es wird sehr mobile, agil denkende, spezifisches Wissen suchende Leute geben, die abends noch schnell etwas Bestimmtes wissen wollen. Für den Nachrichtenkonsum gilt das heute schon in weiten Teilen. Der ist bei Leuten, die auf hohe Informationskompetenz angewiesen sind, schon weitgehend ins Internet abgewandert. Die landen gleich morgens im Büro auf den Seiten von New York Times, Le Monde, Süddeutsche, FAZ. Die Fernsehsender werden eine Schaufensterfunktion haben und ein Ort bleiben, wo durch vertraute Personen das über den Tag eingesammelte Wissen eingeordnet wird. Das Fernsehen wird nicht verschwinden.

STANDARD:  Was würde Sie denn beruflich noch reizen?

Langenstein: Ein Unternehmen gründen. In unserer Familie gab es einige Unternehmer, das hat mich immer gejuckt. Das ist die einzige Beengung, die ich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk empfinde: Ich bin jemand, der sehr gerne Erträge erwirtschaftet. Daher beim ZDF auch der Spitzname Bill Gates vom Lerchenberg. Wir hatten damals kein Geld für Internet, es gab keine Möglichkeit, anzufangen, weil keiner daran geglaubt hat. Ich habe damals einfach das Geld selbst besorgt bei den Amerikanern. Das ZDF konnte so seinen gesamten ersten Internetauftritt fremdfinanziert aus den USA starten, eine Kooperation mit Microsoft. Das hat Spaß gemacht und Freude.

STANDARD:  Dann sind sie jetzt aber ganz falsch, oder?

Langenstein: Nein, aber es hat Vergnügen gemacht und passt leider nicht mehr in die medienpolitische Landschaft. (Harald Fidler/Kurzfassung des Interviews in DER STANDARD, Printausgabe, 19.9.2008)