Laut Kenndaten müsste es sich um eine stinknormale Marktgemeinde in Oberösterreich handeln: Der Ort im Bezirk Steyr-Land umfasst 38,2 Quadratkilometer, davon 27,5 landwirtschaftlich genutzt, und hat 9056 Einwohner.

Doch Sierning ist alles andere als ganz normal. Selbst Bürgermeister Manfred Kalchmair meint, er habe "mit den Eigenheiten in Sierning zu leben gelernt". Die wohl über die Ortsgrenze hinaus bekannteste Eigenheit heißt Wilhelm Molterer, in seiner Funktion als Politiker gesehen.
Ausgerechnet die traditionell rote Gemeinde bringt einen schwarzen Kanzlerkandidaten hervor. Deshalb "ist der Willi vielleicht der bekannteste, aber sicher nicht unser beliebtester Bürger". Menschlich sei er aber schon "in Ordnung", fügt der Arbeiter, der beim Frühschoppen im Lokal "Zur Alten Schmiede" sitzt, hinzu. "Wenn Sie mehr Positives über den Willi hören wollen, dann gehen Sie lieber zum Forsthof", rät er. Dort hocken die VPler, die Bauern - wenn auch nicht vormittags unter der Woche zur Erntezeit.

Der Weg dorthin führt an unzähligen Wahlplakaten vorbei: Faymann, VdB, Strache. Und wo ist Wilhelm Molterer? "Den wird man auf keinem Plakat finden", erklärt Bürgermeister Kalchmair (SPÖ). Zwei Wochen vor der Wahl wirbt die Volkspartei in Molterers Heimatgemeinde mit dem unbekannten Listenzweiten des Wahlkreises, Johann Singer. Die Kumpels vom Frühschoppen wundert dies nicht, denn bei der Wahl 2006 "haben die Schwarzen in Willis Wahlsprengel am meisten verloren, 17 Prozent". (Die VP erreichte dort 33,7 Prozent; insgesamt kam die ÖVP in Sierning auf 28 Prozent, die SPÖ auf 46 Prozent.) Zur VP-Abschlusskundgebung am 26. September auf dem Ortsplatz wird Molterer aber erscheinen.

Ein Termin, den sich Reinhold Baumschlager nicht entgehen lassen wird. Der Seniorchef des Forsthofs ist mehr als nur ein Parteifreund. Und deshalb hält er es genauso wie die Molterers: Privates über den Willi wird nicht ausgeplaudert. Nur soviel: Wann immer es gehe, besuche Willi den Stammtisch, seine Heimat vergesse er nicht. "Wir merken gar nicht, wenn er da ist", meint die Frühschoppen-Runde. Er lebe total unauffällig. Dass Willi Kletzmayr einst von Onkel und Tante Molterer adoptiert wurde, und voriges Frühjahr die Adoptivmutter starb, nur das ist hinlänglich bekannt.

Kein gutes Wort

"Der soll bleiben, wo der Kukuruz wächst", wettert ein Schichtler im Buffet der Tankstelle. Im Ortsteil Letten ist man nicht gut auf den Polit-Promi zu sprechen. Der Grund dafür liegt in besagter Eigenheit. Sierning wurde 1977 zur Marktgemeinde, die roten Arbeiterorte wie Sierninghofen, Neuzeug, Letten kamen zum VP-nahen Sierning mit seinen Großbauern hinzu. "Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstand in all den Jahren nicht", erklärt Kalchmair. Deshalb gebe es "bei uns alles in doppelter Ausführung: Zwei Volksschulen, zwei Fußballvereine." Kein Wunder, wenn manch Lettner den berüchtigten "Fäustl-Mörder", der in den 50er Jahren Frauen vergewaltigte und erschlug, als bekanntesten Sierninger nennt. (Kerstin Scheller, DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.9.2008)