Verfall ist etwas Langsames. Er ist lind und melodisch". In seinem Essay Jenseits von Schuld und Sühne hatte Jean Améry den Verlust des Weltvertrauens beschrieben, den der Mensch erleidet, der wie er selbst in der Folter und im Konzentrationslager den anderen als Gegenmenschen erfährt. Wenige Jahre darauf setzte er in seinem Roman-Essay Lefeu oder Der Abbruch dem Wiederaufbaufuror der Nachkriegsjahre, der die Schatten der Vergangenheit hinter neuerrichteten Fassaden verbarg, eine fragende Ästhetik des Verfalls entgegen.

"Den Ursachen der Freude am Verfall" sinnt sein Protagonist, der Maler Lefeu, nach, dessen altes Mietshaus im fünften Pariser Arrondissement abgerissen werden und einem modernen Neubau weichen soll. Ihm selbst sei, so der Brief des Rechtsanwalts, die "Einweisung in ein modernes Appartement gesichert". Eine Einweisung, der nachzukommen Lefeu sich weigert, um stattdessen "dem sanften Voranschreiten" des Verfalls zu lauschen, dem "Rieseln im Gemäuer, Tropfen des schadhaften Wasserhahns". Im "tiefen Behagen an der Destrukturation" lebt Lefeu still den Widerstand gegen "das dem Wettkampf und der Selektion verschriebene Leben."

Der Roman-Essay erschien 1974. Ein Jahr vorher schon, 1973, hatte Jean Améry selbst ihn eingelesen für den SDR (heute SWR). Dem sorgsamen, sanften Ton seiner Stimme zu lauschen, ihrer Klang gewordenen Gewaltlosigkeit, ist ein Geschenk. (Cornelia Niedermeier, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 20./21.09.2008)