Bild nicht mehr verfügbar.
Gegenüber aufmüpfigen Bürgern versteht die französische Exekutivgewalt traditionellerweise wenig Spaß: Polizisten im vergangenen Frühjahr in Paris mit einem Umweltaktivisten, der gegen genmanipuliertes Getreide demonstrierte.
Nach vehementen Protesten muss Frankreichs Regierung Regierung das geplante umfassende Polizeiregister Edvige fallenlassen. Präsident Sarkozy erleidet seinen ersten größeren Rückschlag.
***
Die Neigung des französischen Zentralstaates, aufmüpfige Bürger zu kontrollieren, ist älter als die Revolution von 1789. Vor 220 Jahren richtete Napoleon sodann ein inneres Überwachungssystem ein, das eigentlich noch heute Bestand hat. Es äußerte sich allein schon im Namen dieser politischen Polizei - "Renseignements Généraux" (RG) hieß sie, zu Deutsch: "Allgemeine Auskünfte".
Die berüchtigten "RG", deren Agenten sich bei lokalen Wahlveranstaltungen oder Demonstrationen diskret im Hintergrund hielten, aber keineswegs versteckten, sind diesen Sommer offiziell in einer neuen Struktur namens DCRI aufgegangen. Damit stellte sich die Frage, was mit den RG-Unterlagen geschehen sollte.
Alle Bürger ab 13 Jahren
Innenministerin Michèle Alliot-Marie und ihr Vorgänger, der heutige Staatspräsident Nicolas Sarkozy, hatten eine Idee, die ihrer beider Image als "super-flics" der Nation bestätigte: Sie wollten diese Akten nicht nur behalten, sondern gleich noch ausweiten. Künftig sollten nicht mehr nur mögliche Unruhestifter und Missetäter, sondern praktisch sämtliche Franzosen ab 13 Jahren registriert werden können. Im Visier waren nicht nur Politiker, Gewerkschafter oder religiöse Würdenträger, sondern auch Mitglieder von Vereinen; und in Frankreich ist nun einmal jeder "bessere" Bürger in mindestens einem Verein eingeschrieben.
Das neue Register, das sogar intime Details über die einzelnen Bürger enthalten sollte, heißt unverbindlich "Exploitation documentaire et valorisation de l'information générale" und wird kurz "Edvige" genannt. Das klingt ähnlich hübsch wie das französische Anti-Terror-Register "Cristina".
Die Franzosen ließen sich durch diese Mädchennamen nicht täuschen. Obwohl Sommerpause war, formierte sich im ganzen Land Protest. Bürgerkomitees lancierten Petitionen gegen Edvige und sammelten 180.000 Unterschriften. Nicht nur Gewerkschafter, Bürgervereine, die Freimaurer und Linksparteien, sondern auch Vertreter der Regierungspartei UMP liefen dagegen Sturm, da die Vorlage als bloßes Dekret etikettiert wurde und damit nicht einmal vor das Parlament kam. Selbst Regierungsmitglieder wie Verteidigungsminister Hervé Morin wandten sich gegen die polizeiliche Datenbank.
Sarkozy musste schon vor zehn Tagen seine Innenministerin an die Front schicken, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen und den "Medienzyklon"- wie sich Alliot-Marie selbst ausdrückte - zu bremsen. Am Donnerstagabend legte sie auf Weisung aus dem Elysée den Rückwärtsgang ein und zog die umstrittensten Punkte zurück. Die Polizei darf insbesondere keine Angaben mehr über den Gesundheitszustand der Bürger, deren "sexuelle Orientierung" oder die "rassische Herkunft" speichern. Nur noch "Zivilstand, Beruf, Vereinszweck, Adresse und Telefonnummer" sollen laut Alliot-Marie gespeichert werden.
Die Daten von Minderjährigen sollen bei Erreichen der Volljährigkeit gelöscht werden; davon ausgenommen bleiben jedoch die Strafregistereinträge. Ausgenommen sind nun auch "Personen, die ein Mandat ausüben oder eine bedeutende institutionelle, wirtschaftliche, soziale oder religiöse Rolle spielen".
Die französischen Medien kommentierten am Freitag, Edvige sei "entkleidet" oder gar "gestorben". Auch die Opposition gab sich erleichtert. Sozialisten wie bürgerliche UMP-Abgeordnete verlangen allerdings weiterhin eine Parlamentsdebatte. Doch davon will Sarkozy immer noch nichts wissen. Das allein illustriert, wie umfassend der Allmachtsanspruch der französischen Exekutivgewalt bleibt. (Stefan Brändle aus Paris/DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.9.2008)