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Zur Beruhigung der Öffentlichkeit gedacht: Beamte des örtlichen Nahrungsmittel-Kontrollamtes in Shenzhen, Provinz Guangdong, vernichten melaminverseuchtes Milchpulver.

Foto: Reuters

Chinas Bevölkerung wurde am Freitag von einer neuen Hiobsbotschaft aufgeschreckt. Lebensmitteltester fanden nach der Aufdeckung lebensgefährlicher Babynahrung, die zum Tod von vier Säuglingen führte und bisher 6244 Kleinkinder an Nierensteinen erkranken ließ, nun auch in normaler Milch Melaminzusätze. Bei den drei chinesischen Marktführern Mengniu, Yili und Shanghais Bright Dairy entdeckten die Fahnder 24 Fälle von mit der Chemikalie verpanschter Frischmilch, Haltbarmilch oder von verpanschtem Joghurt. Sie enthielten 0,8 bis 8,4 Milligramm Melamin pro Liter Milch.

Besonders pikant ist der Fall Yili, weil der Konzern einer der chinesischen Partner des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) bei den Pekinger Spielen war. Die Behörden versicherten erneut, dass die an das Olympische Dorf gelieferte Milch unbelastet gewesen sei. Nach der Absetzung und Verhaftung von Vorstandschefin Tian Wenhua vom Konzern Sanlu, mit dem Chinas Milchpulverkrise vor einer Woche bekanntwurde, bot als Erster unter den neu beschuldigten Milch-Multis Mengniu-Vorstandschef Niu Gensheng seinen Rücktritt an.

Starbucks mit Sojamilch

Die jüngste Schreckensnachricht verstärkte die Nachfrage nach ausländischem Milchpulver und anderen Milchprodukten sprunghaft. Hunderttausende Dosen, Flaschen und Packungen belasteter Milchmarken mussten entsorgt werden. Um Chaos und Unruhen zu vermeiden, verhängten die Staatsplaner der Pekinger Reform- und Entwicklungskommission am Freitag vorübergehende Preiskontrollen für Milch- und Babynahrung. Wie nervös die Öffentlichkeit reagiert, zeigte sich sogar in den rund 90 Starbucks-Filialen in Peking: Dort gibt es statt "Caffè Latte" seit Freitag "Caffè mit Dou Nai"- Kaffee mit Sojamilch.

Inzwischen will auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Peking wissen, warum es Monate dauerte, bis der Skandal öffentlich wurde. Die Hongkonger South China Morning Post zitierte den WHO-China-Beauftragten Hans Troedsson. Er fragt, ob das Versagen des innerchinesischen Meldesystems "absichtlich oder aus Ignoranz" passiert sei.

Weitere Melamin-Betrügerein werden etwa von Hongkonger Zeitungen wie der Peking nahestehenden Wen Wei Po befürchtet. Bereits 2007 wurde Melamin, das einen hohen Proteingehalt vortäuscht, in Export-Haustierfutter für die USA gemischt und führte zum Tod tausender Hunde und Katzen. Könnte Melamin nicht auch in China zur "Veredelung" von Nutztierfutter benutzt worden sein?

China hat seine hausgemachten Skandale immer zu vertuschen versucht, solang es ging, ob es sich um vergiftete Lebensmittel oder Seuchen wie 2003 bei Sars handelte. Auch bei Atomkraftwerken ist das so. Am Freitag meldete die Nachrichtenagentur Xinhua, dass die Behörde für Nuklearsicherheit einen drei Wochen zurückliegenden Transformer-Brandunfall im Atomkraftwerk Tianwan im ostchinesischen Jiangsu erst jetzt bestätigt habe. Es sei ein "normaler Unfall" gewesen, bei dem keine Radioaktivität austrat.

In Hebei, wo der Giftmilchskandal in der Provinzhauptstadt Shijiazhuang seinen Ausgang nahm, wurden 18 Händler, Verkäufer und mutmaßliche Melamin-Panscher verhaftet. Berichte von Xinhua deuten auf einen kriminell organisierten Vertrieb von Melamin hin. Premier Wen Jiabao hat eine Reorganisation der Nahrungsmittelindustrie zur Chefsache gemacht. Bei einer Regierungssitzung sprach er von "chaotischen Zuständen" in der Milchindustrie.

Inzwischen bieten 74 Anwälte in 23 Provinzen in einer "freiwilligen Anwaltsinitiative" den Eltern erkrankter Babys Beratung und Unterstützung an, um die Milchkonzerne auf Schadenersatz und die Behörden wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht zu verklagen. Mehr als tausend Eltern haben schon angefragt. (Johnny Erling, DER STANDARD Printausgabe, 20./21.09.2008)